EU und Ukraine:Munitionslieferungen verzögern sich weiter

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An der Front in der Ukraine wird dringend Nachschub benötigt. (Foto: STRINGER/REUTERS)

Statt bis März soll Kiew nun erst Ende des Jahres eine Million Artilleriegranaten bekommen. Kanzler Scholz und vier andere EU-Regierungschefs räumen ein: "Wir haben unser Versprechen nicht erfüllt."

Von Hubert Wetzel, Brüssel

In der Theorie muss sich die Ukraine keine Sorgen darum machen, dass die Europäer kriegsmüde werden. An markigen Worten mangelt es nicht. "Wir müssen bereit sein, die Ukraine zu verteidigen und zu unterstützen - was immer dazu notwendig ist", sagte der französische Präsident Emmanuel Macron am Dienstag. Einen Tag später meldeten sich mehrere europäische Kollegen in einem Beitrag in der Financial Times zu Wort, in dem sie deutlich mehr Waffenlieferungen an die Ukraine anmahnten: "Wenn die Ukraine verliert, sind die langfristigen Folgen und Kosten für uns alle sehr viel höher. Wir müssen handeln. Europas Zukunft hängt davon ab."

Wie groß allerdings die Kluft zwischen Rhetorik und Realität zuweilen ist, zeigte am Mittwoch das Treffen der europäischen Verteidigungsminister in Brüssel. Bei der Zusammenkunft kassierte die EU offiziell ihr im März 2023 mit viel Pomp gegebenes Versprechen, der Ukraine binnen eines Jahres eine Million Artilleriegranaten zu liefern. Zwar gab es von Anfang an Zweifel, ob die Europäer das schaffen würden. Das Ausmaß des Scheiterns ist dennoch bemerkenswert: Bis März 2024 werden die EU-Länder allenfalls die Hälfte der zugesagten Anzahl an Geschossen geliefert haben, gab der Außenbeauftragte der Union, Josep Borrell, am Mittwoch in Brüssel zu. Was er nicht öffentlich verriet: Auch von dieser gelieferten Munition besteht nur ein kleiner Teil tatsächlich aus jenen schweren Artilleriegranaten vom westlichen Standardkaliber 155 Millimeter, die die Ukraine so dringend braucht. Die meisten Geschosse sind sehr viel kleinere Mörsergranaten.

An dem Graben zwischen Worten und Taten tragen viele Regierungen eine Mitschuld

"Die harte Wahrheit ist: Wir haben unser Versprechen nicht erfüllt", räumten die europäischen Regierungschefs in der Financial Times ein. Statt bis März 2024 soll die Frist für die Lieferung der eine Million Granaten nun bis zum Ende des Jahres verlängert werden. Bis dahin werde man der Ukraine dann "mehr als eine Million Granaten" schicken, so Borrell. Und er nannte noch eine Zahl, an der sich die EU in einigen Monaten ebenfalls wird messen lassen müssen: Insgesamt planten die europäischen Staaten in diesem Jahr Ausgaben von mindestens 21 Milliarden Euro, um die Ukraine militärisch zu unterstützen, versprach er.

An dem Graben zwischen Worten und Taten tragen viele Regierungen eine Mitschuld. Der Beitrag in der Financial Times zum Beispiel war nicht nur von den Regierungschefs von Dänemark, Tschechien, Estland und den Niederlanden unterzeichnet worden, sondern auch von Olaf Scholz. Dass der deutsche Kanzler einerseits alle europäischen Partnerländer aufruft, möglichst rasch möglichst viel Militärgerät in die Ukraine zu schicken, sich gleichzeitig aber standhaft weigert, dem überfallenen Land die höchst effektiven deutschen Taurus-Marschflugkörper zu liefern, wird im Bundeskanzleramt offenbar nicht als Widerspruch gesehen.

"Effizient und zugleich europäisch zu sein, das geht manchmal nicht zusammen."

So wie es im Élysée-Palast in Paris anscheinend niemandem auffällt, dass zwischen dem europäischen Ziel, die Ukraine mit ausreichend Munition und Waffen zu beliefern, und der französischen Forderung, dass diese Munition und diese Waffen in der EU hergestellt werden müssten, ein Konflikt besteht. "Effizient und zugleich europäisch zu sein, das geht manchmal nicht zusammen", sagt ein Diplomat.

Die europäische Rüstungsindustrie hat im Moment nicht die Produktionskapazitäten, um den Bedarf zu erfüllen. Die Konzerne zögern jedoch mit dem Aus- oder Neubau von Fabriken, bis sie verbindliche Abnahmegarantien von den Regierungen haben. Das Ergebnis: Seit fast zwei Jahren wird in Europa über das "Hochfahren" der Rüstungskapazitäten geredet. Die Ergebnisse sind immer noch überschaubar. Erst jetzt, vierundzwanzig Monate nach Beginn des Ukrainekriegs, ist die EU überhaupt in der Lage, eine Million Artilleriegeschosse im Jahr herzustellen.

Es gibt daher in Europa Staaten - darunter Deutschland -, die fordern, die EU solle im Notfall auch außerhalb Europas Munition für die Ukraine bestellen. Die Unterzeichner des Beitrags in der Financial Times fordern das offen. "Partnerländer" könnten bei der Beschaffung "eine wichtige Rolle spielen", schreiben sie. "Die Wege sind weniger wichtig. Der Zweck und die Mittel sind entscheidend."

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In Frankreich herrscht dagegen die Sicht vor, dass die gemeinsam von der EU finanzierten Rüstungskäufe für die Ukraine ein Instrument sein sollen, um gezielt Europas Rüstungsindustrie zu stärken. Während Berlin versichert, es wolle mit Waffenbestellungen vor allem die schlechte Nachschublage der ukrainischen Armee beheben, möchte Paris auf diese Weise Industrie- und Standortpolitik betreiben. Dass die im vergangenen Frühjahr von Frankreich durchgesetzte Vorgabe, die versprochenen eine Million Granaten müssten aus europäischer Fabrikation kommen, ein wesentlicher Grund dafür war, warum die Ukraine eben bis zu diesem Frühjahr keine Million Granaten bekommen hat, ficht die Regierung in Paris nicht an.

Die Bundesregierung dagegen sehr: Sie will, dass der für Waffenkäufe vorgesehene EU-Geldtopf nur dann mit frischen fünf Milliarden Euro gefüllt wird, wenn die Regeln geändert werden. Wie viel "Made in Europe" in einer Granate stecke, soll dann nicht mehr wichtig sein. Hauptsache, sie wird irgendwo zusammengeschraubt und erreicht die Front in der Ukraine.

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