Übergriffe in Köln:Welche Marokkaner Schutz brauchen - und welche nicht

Lesezeit: 4 min

  • Unter den Tätern, die an Silvester Frauen sexuell angegriffen haben, waren vermutlich eine Reihe von Marokkanern, die nicht auf der Suche nach Asyl, sondern nach Geld sind.
  • Nun gibt es die Forderung, Marokko zum sicheren Herkunftsland zu erklären.
  • Menschenrechtsorganisationen halten das für falsch. Denn manche Marokkaner fliehen eben doch aus Angst vor Verfolgung.

Von Markus C. Schulte von Drach

Den jüngsten Informationen zufolge sind unter den Tatverdächtigen, die in Gruppen in der Silvesternacht Frauen sexuell angegriffen und bestohlen haben, besonders viele Marokkaner und andere Nordafrikaner. Wie es dazu kommen konnte, ist inzwischen weitgehend nachvollziehbar. Vermutlich handelt es sich bei den mutmaßlichen Tätern vor allem um junge Männer aus den Maghreb-Staaten, die in den vergangenen Jahren zunehmend nach Deutschland gekommen sind - und von denen sich der Polizei zufolge etliche auch unter Taschendieben und Straßenräubern finden.

Nach den Ereignissen an Silvester waren Flüchtlinge aus nordafrikanischen Ländern und aus dem arabischen Raum in manchen Kreisen schnell unter Generalverdacht geraten. Das zeigt etwa die Forderung der CSU, Marokko und andere nordafrikanische Länder zu sicheren Herkunftsländern zu erklären.

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Tatsächlich waren es bislang relativ wenige Marokkaner, die nach Deutschland kamen, um Asyl zu beantragen. 2015 wurden insgesamt 10 258 Migranten aus Marokko registriert - wobei die Zahlen von Januar bis September zwischen knapp 300 und 685 pro Monat schwankte. Im Oktober war die Zahl auf mehr als 1000 gestiegen, im November und Dezember waren es dann sogar 2696 und 2896 Personen.

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Auch andernorts ist die zunehmende Einreise von Marokkanern nach Europa aufgefallen. So berichtete etwa der griechische Vizeminister Ioannis Mouzalas in der Zeitung Eleftheros Typos von dem "neuen Phänomen", dass Marokkaner und auch Algerier in großer Zahl kämen. Und zwar über die Türkei.

Warum aber machen sich die Marokkaner in jüngster Zeit häufiger auf den Weg hierher?

Ein Grund für die Flucht kann die Lage in ihrer Heimat seit. Darauf deutet ein Bericht von Amnesty International (AI) aus dem Jahr 2015 hin. Zwar vermittle die Regierung Marokkos das Bild eines liberalen Landes, das die Menschenrechte wahre, sagte der internationale Generalsekretär von AI, Salil Shetty, bei der Vorstellung des Berichts. "Doch solange für Inhaftierte und Andersdenkende weiterhin Foltergefahr besteht, bleibt dieses Bild trügerischer Schein."

Marokko: Reformen und Foltervorwürfe

So hatte die Regierung 2011 angesichts des Arabischen Frühlings mit Reformen begonnen. Folter wurde in einer neuen Verfassung ausdrücklich verboten. Der nationale Menschenrechtsrat CNDH erhielt Verfassungsrang. Von einem "zaghaften Demokratisierungsprozess im Land", berichtete Simone Peter, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, nach einem Besuch Marokkos im vergangenen Jahr.

Allerdings hat Amnesty International 173 Fälle zwischen 2010 und 2014 recherchiert, in denen über Folter und andere Misshandlungen von Männern, Frauen und Kindern durch Polizei und Sicherheitskräfte berichtet wurde. Betroffen waren vor allem Studierende, Linke, Islamisten und Aktivisten, die sich für die Selbstbestimmung der von Marokko weitgehend annektierten Westsahara einsetzen. Außerdem "Personen, die des Terrorismus oder allgemeiner Straftaten verdächtigt werden".

Geständnisse seien unter Folter erzwungen worden, berichtet AI. Es könne sogar passieren, "dass Personen, die es wagen, sich zu beschweren und Gerechtigkeit einfordern, wegen 'Verleumdung' und 'Falschaussage' strafrechtlich verfolgt werden".

Ein bekannter Fall ist Ali Aarrass, der 2011 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Waffenbesitzes zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Amnesty International zufolge beruht das Urteil "allein auf unter Folter erzwungenen Aussagen". Nach einem Besuch Marokkos erklärte auch der UN-Sonderbotschafter Juan Ernesto Méndez 2012, Marokko müsse mehr gegen die Folter im Land tun.

Aktivsten von Menschrechtsorganisationen und anderen NGOs berichteten Simone Peter bei ihrem Besuch in Marokko, sie seien heute wieder mehr Repressionen ausgesetzt als noch vor ein paar Jahren. Im Umgang mit den Menschenrechten, im Kampf gegen Folter, dem Schutz von Minderheiten und der Integration von Flüchtlingen bestünde nach wie vor hoher Nachholbedarf, so Peter.

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Sollten die Urteile gegen die Täter von Köln nicht hart genug ausfallen, müsse man über eine Gesetzesänderung nachdenken, fordert die Bundeskanzlerin.

Dass deshalb viele Marokkaner - vor allem gerade jetzt - das Land verlassen wollen, hat Aziz El Aidi allerdings nicht beobachtet. Er arbeitet bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Marokkos Hauptstadt Rabat. Die Menschenrechtslage sei vielleicht nicht so gut wie etwa in Europa, sagt er. Es komme auch vor, dass Sicherheitskräfte mit Schlägen gegen Demonstranten vorgehen. Das aber würde in den Medien auch kritisiert. "Die jungen Männer dagegen, die derzeit nach Europa reisen, fliehen nicht, sondern suchen eine Möglichkeit, Geld zu verdienen", sagt El Aidi.

Dies deckt sich mit Erfahrungen der deutschen Polizei, wonach Zuwanderer aus den Maghreb-Staaten kommen, um von Deutschland aus ihre Familie zu unterstützen. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie alle zwangsläufig straffällig werden. Das gilt vermutlich auch für viele der marokkanischen Jugendlichen, die in den vergangenen Monaten nach Deutschland gekommen sind, und die sich zuvor zum Teil bereits in anderen EU-Ländern durchgeschlagen haben. Selbst andere Flüchtlinge hätten schon berichtet, dass sich Menschen unter sie gemischt hätten, die eigentlich keinen Grund zur Flucht hatten, bestätigt Pro Asyl.

Für die Mehrheit der Migranten aus Marokko gilt demnach offenbar, dass sie nicht vor Repressionen und Folter in ihrer Heimat fliehen. Dafür spricht auch die extrem niedrige Zahl von Marokkanern, deren Asylanträge Erfolg haben. Nach Auskunft des Bundesamtes für Migration und Einwanderung lag der Anteil positiver Entscheide 2015 bei nur 3,74 Prozent.

Marokkaner bekommen kaum Asyl - manche aber doch

Marokko deshalb als sicheres Herkunftsland einzustufen, halten Menschenrechtsorganisationen trotzdem für falsch. Denn, so sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl, "das Asylrecht ist seiner Natur nach auf den Einzelfall bezogen". Die Anerkennung von Marokkanern oder von Menschen etwa aus "sicheren Herkunftsländern" vom Balkan als Asylsuchende oder Flüchtlinge belegt ihm zufolge, "dass es sogar nach der Statistik des Bundesamtes den einen oder anderen Fall gibt, in dem Asyl, subsidiärer Schutz oder Bleiberecht verordnet wird".

Zu einem solchen Fall hat etwa das Verwaltungsgericht Karlsruhe in einem Urteil 2013 festgestellt, " Frauen in Marokko, die wegen ihrer Ehe von häuslicher oder familiärer Gewalt bedroht sind, bilden eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 und 3 AufenthG. Der marokkanische Staat ist nach derzeitiger Erkenntnislage nicht in der Lage, den betroffenen Frauen Schutz vor häuslicher oder familiärer Gewalt zu bieten." Den Asylantrag der betroffenen Klägerin hatte das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration zuvor zurückgewiesen.

Wie Pro Asyl lehnt auch Amnesty International das Konzept des sicheren Herkunftslandes grundsätzlich ab. "Jeder Asylantrag muss laut Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte individuell geprüft werden", sagt Wiebke Judith. "Alles andere wäre ein eindeutiger Verstoß gegen internationales Recht." Außerdem sei bei Flüchtlingen aus einem als sicher eingestuften Herkunftsland keine sorgfältige und unvoreingenommene Einzelfallprüfung mehr vorgesehen. Genau diese sei jedoch für ein faires und individuelles Asylverfahren absolut notwendig.

Das lässt sich gerade am Beispiel Marokko aufzeigen. Für ein Land, das als sicher eingestuft wird, bestünde die gesetzliche Vermutung, es gebe in dem betreffenden Land keine politische Verfolgung oder die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen, sagt Judith. Das aber ist in Marokko eben nicht gegeben.

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