Nordafrika:Tunesien probt die Basisdemokratie

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Die Reformen von Präsident Saied sind umstritten, im Mai gab es in Tunis Proteste. (Foto: Hassene Dridi/AP)

Für Präsident Saied sind die Parteien in seinem Land korrupt, er hat sie entmachtet. Bei den Wahlen an diesem Wochenende wagt das Land ein Experiment.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Das basisdemokratische Experiment von Tunesiens Präsident Kais Saied nimmt die nächste Hürde. Saied hatte die bisherigen Parlamentarier im vergangenen Sommer abgesetzt, jetzt wird das Sitzungsgebäude noch immer von Sicherheitskräften bewacht und ist verschlossen. An diesem Samstag sind Wahlen. Aber ohne Parteien.

Ebenfalls im Sommer hatte der 64-Jährige mit einer von ihm selbst geschriebenen Verfassung die Voraussetzungen für die Abkehr vom bisherigen Demokratiesystem geschaffen. Politische Parteien sind ausgeschlossen, sie dürfen die individuell antretenden Kandidaten auch nicht finanziell unterstützen. 1000 Kandidatinnen und Kandidaten bewerben sich um einen Sitz für die neu geschaffene erste Kammer des Parlaments. Um als Kandidat anerkannt zu werden, musste man mindestens 400 Unterschriften vorlegen, davon mindestens 200 von Frauen und 100 von unter 35-Jährigen. Dennoch steht in einigen Wahlkreisen nur ein Kandidat zur Wahl, in drei sogar niemand.

Nach einem Jahr müssen sich Gewählte einem Referendum stellen

Der 2019 überraschend zum Präsidenten gewählte Juraprofessor Saied setzt damit sein im Wahlkampf stets offen angekündigtes Projekt um, das sich auf lokale Räte stützt, die die Arbeit der zu wählenden Kandidaten kontrollieren. Nach einem Jahr müssen sich die Abgeordneten in ihrem Wahlkreis einem Referendum stellen und können wieder abgesetzt werden. Seit der Revolution war Kais Saied mit einem Team von Aktivisten durch die Provinzen getourt, um für sein Experiment zu werben.

Die meisten der von Saied als korrupt oder als Lobbygruppen für Geschäftsleute diffamierten Parteien lehnen die Abstimmung ab. Die größte Gewerkschaft UGGT kritisiert die zunehmende Machtfülle des Präsidenten, viele Mitglieder wollen die Wahl boykottieren. Denn seine eigene Macht hat Saied nach französischem Vorbild mit der neuen Verfassung gestärkt. Den Regierungschef, Minister und Richter kann der Präsident bestimmen. "Das neue Parlament wird nur dazu dienen, dem Putsch von Kais Saied einen legitimen Anstrich zu geben", kritisiert Abir Moussi, die Parteichefin der nach Umfragen beliebtesten Partei Destour. Andere Parteipolitiker wie Fadhel Abdelkefi von Afek Tounes werden wegen ominösen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft daran gehindert, das Land zu verlassen.

Auch Geschäftsleute wurden seit dem vergangenen Juli mit dem Hinweis auf laufende Ermittlungen wegen Korruption am Flughafen Tunis-Karthago festgehalten. Rached Ghannouchi, dessen Vater die moderate Islamisten-Partei Ennahda gegründet hat, wirft die Staatsanwaltschaft vor, zusammen mit einer radikalen Gruppe Anschläge auf Sicherheitskräfte geplant zu haben.

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Von den politischen Spannungen ist im Alltag nichts zu spüren. Die Mehrheit der Tunesier ist aufgrund der Wirtschaftskrise und den seit dem Ukraine-Krieg gestiegenen Lebensmittelpreisen damit beschäftigt, finanziell über die Runden zu kommen. Und so laufen die Vorbereitungen der Abstimmung offenbar so reibungslos wie in den Vorjahren. Im ganzen Land sind Armeepatrouillen und mehr als 10 000 Polizisten im Einsatz, um die Wahllokale zu bewachen.

Saied hofft, der Wahl mit dem gewählten Datum eine besondere Legitimität zu verschaffen. Der 17. Dezember markiert den Beginn des Arabischen Frühlings. An dem Tag im Dezember 2011 hatte sich der Tunesier Mohamed Bouazizi mit Benzin übergossen und angezündet. Kurz zuvor hatten Polizisten Gemüse konfisziert, von dessen Verkauf der 27-Jährige und seine Eltern lebten.

Er setzt ein basisdemokratisches Experiment durch, das viele skeptisch sehen: Tunesiens Präsident Kais Saied. (Foto: Khaled Nasraoui/dpa)

Über Bouazizis fehlende Genehmigung zum Verkauf seiner Ware auf dem Markt von Sidi Bousid hätten die Beamten gegen die Zahlung eines kleinen Bestechungsgeldes wie üblich hinweggesehen. Doch diesmal weigerte sich Bouazizi zu zahlen. Die Empörung über den alltäglichen Machtmissbrauch von Behörden in einer tunesischen Kleinstadt fegte die Langzeitregime in Tunesien, Ägypten und Libyen innerhalb eines Jahres hinweg.

Viele denken, die Demokratie hat nur Vetternwirtschaft und steigende Preise gebracht

Doch nur in Tunesien hat die Demokratie bis heute überlebt. Das sicherte dem Zwölf-Millionen-Einwohnerland üppige Zuwendungen aus Europa oder der Weltbank. Doch nach einer Terrorwelle der Islamisten fließen die üppigen Kredite indirekt auch in die Kassen des Innenministeriums und der bürokratischen Elite. In keinem anderen Sektor sind seit der Revolution so viele neue Jobs entstanden und wurden die Löhne so stark erhöht. Viele Tunesier denken, die Demokratie hat ihnen nur noch mehr Vetternwirtschaft und steigende Preise gebracht.

"Wir leben in zwei verschiedenen Realitäten", sagt Chaima Bouhlel. Die Aktivistin hat die Arbeit von Abgeordneten und der Regierung für die Organisation Al Bawsala bewertet. "Ja, die zahlreichen Bürgerinitiativen sind in der arabischen Welt wohl einzigartig. Doch auch die alte politische Elite ist gut organisiert. Die Wirtschaft wird von denselben Familien wie vor der Revolution dominiert." In der Basisdemokratie von Präsident Saied sieht Bouhlel keine Lösung der Probleme, denn der Plan werde ohne Dialog mit anderen politischen Akteuren oder der Zivilgesellschaft durchgepeitscht.

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