Türkei: Verfassungsreform:Votum gegen die Hetze

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Die Verfassungsreform brachte die Türkei an den Rand einer Spaltung - umso beeindruckender ist das Ergebnis der Volksabstimmung. Das Land trennt sich von altem Ballast. Triumphgeheul ist trotzdem unangebracht.

Christiane Schlötzer

Eine deutliche Mehrheit der Türken wünscht sich, dass ihr Land weitergeht auf dem Weg der Demokratisierung. Sie möchte auch, dass das Militär weniger Macht und die Bürger mehr Rechte haben. Sie will, dass Generäle mit Putschgelüsten gegen Parlament und Wählerwillen nicht länger ungestraft davon kommen. All dies zeigt das Ergebnis des Referendums vom Sonntag über die seit langem umfangreichste Änderung der türkischen Verfassung. Und dieses Votum ist viel klarer ausgefallen, als alle Umfragen vorher vermuten ließen.

Der Fortschritt hat gesiegt: Eine Mehrheit der Türken wollte der politischen Hetzkampagne gegen das Referendum nicht glauben und stimmte für die Verfassungsänderungen. (Foto: dpa)

Die geltende Verfassung haben Generäle vor fast drei Jahrzehnten der Republik aufgezwungen, nach einem Putsch am 12. September 1980. Hunderttausende Türken verschwanden damals in den Gefängnissen oder verließen das Land. Dass die Putschisten und die Befehlshaber der Folterer von einst nun mit der Verfassungsänderung erstmals juristisch belangt werden dürfen, ist mehr als nur ein symbolischer Modernitätsgewinn. Für die einst Gefolterten und zwangsweise Ausgebürgerten ist es eine späte Genugtuung, für die Gesellschaft eine Chance, ein Trauma aufzuarbeiten.

Das Referendum selbst aber hat die Türkei wieder einmal tief gespalten. Die beiden großen politischen Lager wollten es so. Die Opposition, vor allem die Republikanische Volkspartei CHP, behauptete in ihrem Furor gegen die Regierungspartei AKP gar, Premier Tayyip Erdogan führe das Land in eine "Ein-Parteien-Diktatur", ja der Regierungschef selbst sei ein Putschist. Die meisten Türken folgen bei Wahlen gewöhnlich den Vorgaben ihrer Parteien. Die Zustimmung zur Reform aber geht nun weit über die Zahl der AKP-Wähler und Anhänger hinaus. Dies zeigt: Eine Mehrheit wollte der politischen Hetzkampagne nicht glauben.

Ein Nein bei der Verfassungsabstimmung wäre mehr gewesen als ein Misstrauensvotum gegen Erdogan. All die Skeptiker einer weiteren Öffnung und Demokratisierung des Landes hätten sich bestätigt fühlen dürfen. Ein Scheitern hätte einen Triumph für die Kräfte der Rückwärtsbewegung bedeutet, die vor allem in Militär, Justiz und Beamtenschaft zu finden sind.

Hätte die größte Kurdenpartei im Südosten der Türkei nicht noch dazu aufgerufen, das Referendum zu boykottieren, wäre die Zustimmung weit deutlicher ausgefallen. Denn dort, wo die Kurden sich dem Urnengang nicht verweigerten, gab es fast nur Ja-Stimmen. Der Boykottaufruf aber war ein Signal, das man so verstehen kann: Die Kurden fühlen sich noch immer ausgeschlossen.

Will Erdogan nun die Türkei wirklich weiter modernisieren und demokratisieren, dann muss er auch die Botschaft des Boykotts ernst nehmen. Denn sie ist ein Plädoyer für eine wirklich neue Verfassung, eine Verfassung, mit der beispielsweise die diskriminierende Zehn-Prozent-Hürde bei Parlamentswahlen wegfällt. Sie wurde einst eingeführt, um die Kurdenparteien aus dem Parlament fernzuhalten. Die AKP und ihr Chef hatten jetzt nicht den Mut, diese Hürde zu kippen. Es ist höchste Zeit dafür.

Es gibt noch mehr zu reformieren, aber für eine richtig neue Verfassung braucht man einen gesellschaftlichen Konsens. Den muss Erdogan nun auch mit seinen unterlegenen Gegnern suchen. Es wäre ein schlechtes Ergebnis dieses Referendums, wenn die AKP aus der hohen Zustimmung den Schluss zöge, sie sei unverwundbar. Triumphgeheul sollte sich die Regierung nicht erlauben.

Die Opposition wiederum sollte ihre Politik der Kompromisslosigkeit überdenken. Die Mehrheit der Türken will nicht zurück in die Jahre der politischen Isolation und der ideologischen Kämpfe. Sie sehnt sich nach politischer Stabilität und einer Fortsetzung des beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwungs. Und sie wünscht sich ein demokratischeres und liberaleres Land. Auch Europa kann sich über diese Botschaft nur freuen.

© SZ vom 13.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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