Neuwahl in der Türkei:So Erdoğan will

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Ein türkischer Polizeibeamter vor den Postern von Mustafa Kemal Ataturk, dem Begründer der türkischen Republik, und Erdoğan. (Foto: AP)

Präsident Erdoğan hat eine Neuwahl im Herbst ertrotzt. Die innenpolitische Lähmung der Türkei wird also vorerst andauern - und das in einer Zeit, in der die Gewalt im Land eskaliert.

Von Luisa Seeling, München

Seit Sonntag steht fest: Es wird Neuwahlen geben in der Türkei. Die Frist zur Regierungsbildung ist abgelaufen, nun beginnt wieder die Zeit des Wahlkampfs. Glaubt man Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, dann steht auch etwas Zweites bereits fest: der Zeitplan für die politische Dramaturgie dieses Herbstes.

"So Gott will, wird die Türkei am 1. November wieder ein Parlament wählen", ließ er wissen. Worauf allerdings die Beamten der Wahlbehörde sich beeilten klarzustellen, wer für derartige Entscheidungen eigentlich zuständig ist. Der 1. November stehe noch nicht fest, auch Termine im Oktober oder später im November seien möglich.

Das Hickhack um den Wahltermin ist nur ein Detail, aber eines, das sich nahtlos einfügt in Erdoğans Strategie der vergangenen Wochen. Kaum jemand zweifelt daran, dass der 61-Jährige seit der Parlamentswahl vom 7. Juni darauf sinnt, die Wahl wiederholen zu lassen. Damals verlor die islamisch-konservative Regierungspartei AKP nach mehr als zwölf Jahren die absolute Mehrheit im Parlament. Sie brauchte einen Koalitionspartner.

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Nach der Niederlage musste Erdoğan seinen Plan zur Einführung eines Präsidialsystems erst mal zurückstellen. Aufgegeben hat er ihn nicht. Vor einer Woche sagte er, faktisch sei die Türkei schon eine Präsidialrepublik, weil das Volk ihn im vergangenen Jahr direkt gewählt habe. Jetzt müsse man nur noch die Verfassung anpassen.

Dennoch geht diese "Anpassung" schlecht ohne Mehrheit, weshalb Erdoğan immer offensichtlicher auf Neuwahlen hinarbeitete, anstatt den Weg für eine Koalition freizumachen. Die Gespräche von Regierungschef Ahmet Davutoğlu mit den Vorsitzenden der beiden größten Oppositionsparteien, Kemal Kılıçdaroğlu von der Mitte-links-Partei CHP und Devlet Bahçeli von der nationalistischen MHP, scheiterten programmgemäß.

Politische Lähmung bleibt vorerst

Eine Koalition kam nicht zustande - auch weil Erdoğan seinen verfassungsgemäßen Auftrag, sich aus dem politischen Tagesgeschäft herauszuhalten, so interpretierte, dass er das politische Tagesgeschäft blockierte.

Seit dem 7. Juni ist das Land politisch gelähmt - und das wird es noch sehr lange bleiben. Die operative Politik steht in demokratischen Staaten für gewöhnlich still, wenn ein Wahlkampf tobt. Oder, wenn es Koalitionsverhandlungen gibt. In der Türkei wird es nun beides zugleich geben - Wahlkampf und Koalitionsverhandlungen. Wie das?

Den Wahlkampf hat der Präsident mit seinen Neuwahlen ertrotzt. Und die neuerlichen Verhandlungen müssen sein, weil die Verfassung nun eine Übergangsregierung bis zur Neuwahl vorsieht. Deren Bildung ist eine ungeheuer vertrackte Aufgabe, mit der Erdoğan voraussichtlich diese Woche Noch-Regierungschef Davutoğlu beauftragen wird.

Die Verfassung schreibt vor, dass alle im Parlament vertretenen Parteien daran beteiligt sein sollen. Doch MHP und CHP sperren sich. Einzig die HDP steht für das Übergangskabinett bereit. Es wäre das erste Mal in der türkischen Geschichte, dass eine kurdische Partei in einer Regierung vertreten wäre. Die AKP aber windet sich, schließlich ist die Kurdenpartei seit der Wahl im Juni ihr Hauptgegner.

Erdoğan wird im Wahlkampf alles daran setzen, die HDP unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken, um sie aus dem Parlament zu drängen. Nur dann hat die AKP eine Chance, sich die absolute Mehrheit zurückzuholen. Doch egal, wie das Übergangskabinett aussehen wird: Die Türkei wird keine dauerhafte, stabile Regierung haben in einer Zeit, in der im Land die Gewalt eskaliert.

Der blutige Konflikt mit der kurdischen Terrororganisation PKK ist wieder aufgeflammt, fast täglich gibt es Tote. Im Nordirak lässt die Regierung in Ankara kurdische Stellungen bombardieren, in Syrien die Terrormiliz Islamischer Staat.

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Im Südosten gibt es fast täglich Tote, am vergangenen Mittwoch allein starben nach Behördenangaben acht Soldaten und 24 PKK-Kämpfer. Mancherorts liefern sich Armee und kurdische Rebellen regelrechte Straßenschlachten. In einigen Orten haben Kurden ihre "Selbstverwaltung" ausgerufen.

Die PKK errichtete Sprengfallen und hob Straßengräben aus. In Istanbul starb vor ein paar Tagen ein 17-Jähriger, als sich kurdische Aktivisten und Sicherheitskräfte Gefechte lieferten. Vor zwei Wochen erschütterten Anschläge die Stadt. Und vor einigen Tagen explodierte ein Sprengsatz neben dem Dolmabahçe-Palast, einem beliebten Touristenziel.

Nicht weniger beunruhigend ist, dass die Terroristen des IS die Türkei ins Visier genommen haben. In einem Video rief ein IS-Kämpfer zum Sturz von Präsident Erdoğan und zum Sturm auf Istanbul auf. Die Islamisten verzeihen es der Regierung nicht, dass sie die Amerikaner den Luftwaffenstützpunkt Incirlik nutzen lässt, um Angriffe auf den IS in Syrien zu fliegen.

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In der Türkei glauben viele, dass Erdoğan die jüngsten Spannungen im Kurdenkonflikt provoziert habe, um die Zustimmungswerte der AKP nach oben zu treiben und die der HDP nach unten zu drücken. Er wolle sich in unsicheren Zeiten als starker Mann präsentieren, um seinen Traum von der Präsidialrepublik zu verwirklichen.

Doch wenn das Erdoğans Kalkül ist: Wird es aufgehen? Umfrageinstitute sehen zurzeit keine Stimmenverluste für die HDP, im Gegenteil. Laut Metropoll liegt die Kurdenpartei, die im Juni 13 Prozent der Stimmen erhielt, noch vor der MHP, die damals auf 16 Prozent kam. Die AKP käme demnach auf noch weniger Sitze als im Juni.

Sollte die AKP die absolute Mehrheit ein zweites Mal verfehlen, ginge das Ringen um eine Koalition von vorne los. Dann könnte es bis Jahresende dauern, bis das Land wieder eine stabile Regierung hat. Dann würde sich die Türkei, weil Erdoğan es will, in der schwersten innenpolitischen Krise seit Jahren den längsten Wahlkampf und die ausgiebigsten Koalitionsverhandlungen aller Zeiten leisten.

© SZ vom 24.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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