Türkei:Erdoğan zwingt sein Volk zum Besserwählen

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Erdoğan hat seinen Plan nicht aufgegeben, die Türkei in eine Präsidialrepublik zu verwandeln. (Foto: AP)

Den türkischen Präsidenten Erdoğan interessiert der Wählerwille nur, wenn er zu seinen Absichten passt. Verzeihen ihm die Türken diesen kalten Ehrgeiz?

Kommentar von Luisa Seeling

Wäre die Lage nicht so beängstigend, man könnte lachen über die Pippi-Langstrumpfhaftigkeit des türkischen Präsidenten. Recep Tayyip Erdoğan macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt, und er tut es mit verblüffender Offenheit. Vor ein paar Tagen ließ er seine Anhänger wissen, die Türkei habe doch de facto schon eine Präsidialrepublik. Schließlich habe ihn das Volk vor einem Jahr direkt gewählt. Nun müsse das faktisch bestehende System nur noch in einer neuen Verfassung niedergeschrieben werden.

Kurzum: Vergesst die Parlamentswahl vom 7. Juni, liebe Wähler, bei der ihr meinem Plan, aus der Türkei ein Präsidialsystem zu machen, eine Absage erteilt habt. Für mich zählt euer Votum vom Vorjahr!

Deutlicher hätte der Staatschef nicht ausdrücken können, dass ihn der Wählerwille nur interessiert, wenn der zu seinen Absichten passt. Es ist ein eigenwilliges Demokratieverständnis, das sich da offenbart: Wenn er die Mehrheit gewinnt, will Erdoğan zwischen zwei Wahlterminen tun und lassen dürfen, was er will. Wenn er keine oder keine hinreichende Mehrheit bekommt, ist das ein Missstand, den es zu beheben gilt.

Erdoğan schert sich nicht um die Verfassung

Schon im Wahlkampf hat sich Erdoğan wenig darum geschert, was die Verfassung vorschreibt - zum Beispiel einen überparteilichen Präsidenten. Unermüdlich tourte der 61-Jährige durchs Land und warb für die AKP. Doch es half nichts: Die Regierungspartei kam nicht einmal in die Nähe der Zweidrittelmehrheit, die zur Änderung der Verfassung nötig ist, sogar die absolute Mehrheit verfehlte sie. Seinen Zorn darüber richtet Erdoğan gegen die kurdische HDP, deren Einzug ins Parlament bewirkte, dass die AKP ihre absolute Mehrheit verlor. Er rückt die Kurdenpartei in die Nähe des PKK-Terrors, wohl in der Hoffnung, ihr so ein paar Wähler abzujagen, wenn es im Herbst zu Neuwahlen kommt.

Bis vor ein paar Monaten hatte Erdoğan noch verhandeln lassen mit der kurdischen Terrororganisation PKK; die HDP war als Vermittlerin mit von der Partie. Doch als HDP-Chef Selahattin Demirtaş im Wahlkampf klarstellte, seine Partei werde kein Präsidialsystem unterstützen, verloren die Friedensverhandlungen für Erdoğan ihren Nutzen. Seit dem Anschlag von Suruç im Juli, bei dem vor allem Kurden starben, und den anschließenden Rachemorden der PKK ist es mit dem Friedensprozess ganz vorbei. Seit Wochen ist die Lage im Land so, dass es untertrieben wäre, von einem Pulverfass zu sprechen: Fast täglich sterben kurdische Rebellen und Sicherheitskräfte, im Nordirak lässt die Türkei PKK-Stellungen bombardieren. Zudem hat sich Ankara dem Kampf gegen den Islamischen Staat angeschlossen, weshalb die Terrormiliz nun zum Aufstand gegen den "Teufel Erdoğan" aufruft.

Gespräche mit CHP und MHP sind gescheitert

In einer solchen Situation Koalitionsverhandlungen zu blockieren und das Land in einen politischen Stillstand zu zwingen ist verantwortungslos. Genau das aber tut der Präsident, der die absolute Mehrheit für seine Partei zurückgewinnen will. Die Gespräche der AKP mit der größten Oppositionspartei, der CHP, sind ebenso gescheitert wie mit der nationalistischen MHP. Nicht nur, aber maßgeblich auch deshalb, weil der Präsident andere Pläne hat. Wenn bis Ende der Woche nicht noch ein politisches Wunder geschieht, muss das Volk im Herbst wieder ran: an die Urnen, zum vierten Mal seit März 2014, zum Besserwählen.

Seinen Plan, die Türkei in eine Präsidialrepublik zu verwandeln, hat Erdoğan offenkundig nicht aufgegeben. Im Moment deuten Umfragen nicht darauf hin, dass sich die Wähler massenhaft anders entscheiden würden als im Juni. Aber bis zum Herbst ist es noch lange hin, der Präsident wird nichts unversucht lassen, um das Ruder herumzureißen. Die Frage ist, ob ihm die Wähler so viel kaltes Kalkül verzeihen.

© SZ vom 19.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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