Weil die Türkei wegen der Corona-Gefahr Zehntausende Kriminelle aus den Gefängnissen entlässt, jedoch politische Häftlinge nicht freikommen, zieht die Opposition vor das Verfassungsgericht. Die Opposition, aber auch Menschenrechtler kritisieren, dass etwa Zehntausende politische Häftlinge von dem Straferlass im Zuge einer Justizreform ausgenommen sind. Sie will diese deshalb nun prüfen lassen. Öztürk Türkdoğan, Chef des türkischen Vereins für Menschenrechte, sagte der Süddeutschen Zeitung : "Dieses Gesetz tritt die Grundwerte mit Füßen. Damit bleiben Inhaftierte wie Osman Kavala, Selahattin Demirtaş und zahlreiche Journalisten und andere Menschen im Gefängnis."
Das Parlament hatte das Justizreformgesetz am Dienstag beschlossen. Damit werden bis Ende Mai Zehntausende Häftlinge freigelassen oder dürfen in Hausarrest; die ersten Gefangenen sind bereits entlassen worden. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte die Reform als Ausdruck staatlicher Bemühung um Gerechtigkeit bezeichnet. An die Adresse der von dem Straferlass betroffenen Häftlinge gewandt sagte er: "Ich glaube, dass diese Bürger den Staat und die Gesellschaft nicht enttäuschen werden." Er fügte hinzu: "Ich weiß, dass wir noch viel mehr tun müssen, um für Gerechtigkeit zu sorgen, die ein niemals endendes Anliegen der Menschlichkeit ist."
Gefängnisse als Nährboden für das Coronavirus
Hintergrund der umstrittenen Haftentlassungen ist, dass die überfüllten Gefängnisse ein Nährboden für das Coronavirus sind. Die Türkei hat mit 300 000 Inhaftierten eine sehr hohe Häftlingsquote, die hygienischen Bedingungen in den Gefängnissen sind schlecht. Rund 80 Inhaftierte sollen bereits erkrankt sein, drei sind gestorben. Hinzu kommen Dutzende infizierte Gefängniswärter und Justizangehörige.
Von der Justizreform ausgenommen sind neben politischen Häftlingen auch Terroristen, Mörder, Drogenkriminelle, Sexualstraftäter und andere für Gewalt gegen Frauen verantwortliche Personen. Unter Hausarrest werden vor allem über 65-jährige und chronisch kranke Häftlinge gestellt sowie Mütter mit Kleinkindern. Zu Beginn der Debatte war diskutiert worden, sogar bestimmte Sexualstraftäter freizulassen. Dies hatte zu einem öffentlichen Aufschrei geführt.
Auffällig ist aber, dass die politischen Häftlinge, von denen ein Teil noch nicht einmal verurteilt worden ist, grundsätzlich ausgenommen bleiben. Nach dem Putschversuch von 2016 waren neben Zehntausenden Militärs, Polizisten, Beamten und Lehrkräften vor allem Medienschaffende und Autoren festgenommen worden. Unter ihnen sind sehr bekannte Autoren wie der 2019 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnete Schriftsteller Ahmet Altan.
"Wenn das Virus in den Gefängnissen angekommen ist, wird es sich wie ein Buschfeuer verbreiten", erklärte Altan aus der Haft schriftlich einer Zeitung.
Ebenfalls in Haft sitzt seit 2017 der Kulturmäzen Osman Kavala, gegen den wegen verschiedener Vorwürfe ermittelt wird und dessen Freispruch aufgehoben wurde. Ein weiterer prominenter Gefängnisinsasse ist der kurdische Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş. Der frühere Co-Vorsitzende der pro-kurdischen Partei HDP ist nach Angaben seiner Frau chronisch krank und besonders coronagefährdet.
Der Vorwurf gegen viele der aus politischen Gründen Inhaftierten lautet meist auf Unterstützung terroristischer Gruppen. Die Justiz verfolgt wegen des Putsches von Teilen der Armee vor allem Personen, die dem Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen nahestehen sollen. Der Terrorvorwurf bezieht sich oft auch auf angebliche Nähe zur militanten kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in vielen Staaten als Terrororganisation geführt wird. Der Vorwurf der PKK-Nähe wird häufig auch gegen Politiker der pro-kurdischen Partei HDP erhoben.
Der Vorstoß, das Gesetz vom Verfassungsgericht prüfen zu lassen, kommt von der sozialdemokratisch ausgerichteten Oppositionspartei CHP. Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu sagte der SZ: "Dieses Gesetz zeigt die politischen Präferenzen der Regierung: Journalisten, Politiker, Akademiker oder diejenigen, die Gülen-Schulen besucht oder ihr Geld bei Gülenisten-Banken hatten, bleiben im Gefängnis." Angesichts der großen Corona-Gefahr in den Haftanstalten seien die politischen Häftlinge "zum Tode verurteilt".