Türkei:Die Trauerfeier wird zum Pfeifkonzert

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Menschen nehmen an einer Versammlung zum ersten Jahrestag des Erdbebens in der südtürkischen Stadt Antakya teil. (Foto: Ozan Kose/AFP)

Genau ein Jahr nach dem Erdbeben versammeln sich im türkischen Antakya die Überlebenden zum Gedenken. Als ein Minister auf die Bühne tritt, schreien sie ihm ihre Wut entgegen.

Von Raphael Geiger, Istanbul

Die Idee war, zu schweigen. Eine Minute lang um 4.17 Uhr, genau ein Jahr nach dem ersten Beben. So stand es im Programm. Und so versammelten sich die Menschen in Antakya, der am schwersten betroffenen Stadt im türkischen Erdbebengebiet. So standen sie am frühen Dienstagmorgen in der Dunkelheit zwischen den Trümmern ihrer Stadt. Nur schweigen wollten sie nicht.

Lautes Buhen und Pfeifen setzte ein, als der Gesundheitsminister auf die Bühne trat, aus Ankara als Vertreter der Regierung angereist. Videos zeigen, wie Fahrettin Koca, der Minister, kaum zu Wort kam. Manche schrien ihm Sätze entgegen wie: "Wir hatten kein Leichentuch, wir hatten keinen Leichenwagen." Auf einem Plakat stand: "Der Mörderstaat wird die Rechnung bekommen." Und immer wieder riefen sie die Frage, die auch die Retter riefen, damals vor einem Jahr, wenn sie unter eingestürzten Häusern nach Überlebenden suchten: "Hört jemand unsere Stimmen?"

In Hatay kam die Hilfe besonders spät an

Gesundheitsminister Koca war wohl entsandt worden, weil er als eher verbindlich gilt, in der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan zählt er nicht zu den Falken. Die Provinz Hatay, in der Antakya liegt, wird als einzige in der Erdbebenregion von der Opposition regiert - wobei sich in der Nacht zu Dienstag, ein Jahr nach dem Beben, auch deren Gouverneur auspfeifen lassen musste. Für sein Krisenmanagement, für die fehlende Hilfe. In Hatay kam sie besonders spät an, noch schleppender als anderswo.

Viele in der Provinz glauben, dass daran die Politik schuld war. Der Fakt, dass Hatay kein treues Erdoğan-Land ist. Was dieser gerade erst indirekt bestätigt hat, als er am Wochenende in Antakya auftrat. Erdoğan war angereist, um die Kandidatinnen und Kandidaten seiner AKP für die Kommunalwahlen am 31. März zu nominieren. Dabei sagte er einen Satz, der seine Gegner empörte: "Wenn die nationale Regierung und die örtliche nicht Hand in Hand gehen, wird in jener Stadt nichts ankommen." Und er fügte hinzu: "Ist nach Hatay etwas gekommen?"

Ein Schlachtruf, den kein Machthaber gern hört

Viele empfanden das als Hohn. Geld fließe also nicht zu denen, die es am dringendsten brauchten, schrieb die Kommentatorin Elif Çakır in der Zeitung Karar, beispielsweise für den Wiederaufbau nach dem Beben. Der Präsident sage ganz offen: Wählt bei den Kommunalwahlen unsere Kandidaten, sonst bekommt ihr nichts. "Erdoğan ist der Staat", so Çakır, "der Staat ist die AKP." Dieser Staat musste sich jetzt im nächtlichen Antakya einen Schlachtruf anhören, den Machthaber nirgendwo auf der Welt gern hören. Einer, zu dem in der Türkei auch Mut gehört. "Regierung, tritt zurück!", hieß es aus der Menge.

Von denen, die am Dienstag um 4.17 Uhr ihre Wut in die Nacht schrien, dürften viele noch immer in Notunterkünften leben. Über eine halbe Million Menschen leben in der Erdbebenregion nach wie vor in Containern oder gar in Zelten. Mancherorts hat der Wiederaufbau begonnen, in Antakya dürfte es damit aber am längsten dauern. Nicht nur, weil hier viele die Opposition wählen. Die Stadt sieht wie ausradiert aus. Sie wird von dem Erdbeben wohl auf Jahre gezeichnet bleiben.

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