Recep Tayyip Erdoğan hatte Großes vor. Er wollte sein Land zur Vorbildnation im Nahen Osten machen und es in die EU führen, als Krönung der von Staatsgründer Kemal Atatürk vor 90 Jahren erwünschten Westintegration. Aus beidem ist nichts geworden. Die Türkei ist zwar eine Demokratie, aber sie hat keinen Demokraten an der Spitze. Der Autokrat Erdoğan agiert so, wie sich Ägypter, Tunesier oder Syrer ihre Regierenden gerade nicht mehr wünschen: selbstgerecht, Freiheitsrechte einschränkend, beratungsresistent. Nach dem Motto: Der Staat bin ich.
Nur: Die Türken kuschen nicht, sie benehmen sich nicht wie verschüchterte Untertanen eines diktatorischen Regimes, sondern wie Bürger einer lebendigen Demokratie. Sie fordern Erdoğan heraus, mit traditionellem türkischen Witz und den technischen Finessen des 21. Jahrhunderts. Karikaturisten zeigen Erdoğan munter den Vogel (das Twitter-Symbol), und Millionen umgehen das Verbot des Kurznachrichtendienstes seit vergangenen Freitag mit rasch erlernbaren Tricks. Der Eingriff in die sozialen Medien hat sich als Bumerang für den Regierungschef erwiesen.
Wo Zeitungen und TV-Stationen unter politischem Druck stehen, sind soziale Medien mehr als ein Ventil oder Freizeitvergnügen. Sie sind Informationsquelle und Plattform für Kritik. Die Türken stehen als Twitter-Nutzer weltweit an vierter Stelle. Das sagt viel über das Bedürfnis nach freier Kommunikation. Wer glaubt, er könne dieses Bedürfnis ausschalten wie einen Fernseher, ist naiv - oder getrieben von Panik. Erdoğan agiert wie ein Angstbeißer.
Der Premier befürchtet vor der wichtigen Kommunalwahl am kommenden Sonntag noch mehr Enthüllungen über seinen Regierungsstil. Die abgelauschten Telefonate lassen bereits Blicke in einen Abgrund zu: Erdoğan und seine engsten Mitstreiter haben sich offenbar um Recht und Gesetz wenig gekümmert. Selbst die Religion war einigen nicht heilig. Ein Ex-Minister macht in einem der im Internet verbreiteten Gespräche Witze über den Koran.
Das ist eine Katastrophe für die konservativ-islamische Regierungspartei AKP. Erdoğan macht es den eigenen Anhängern derzeit denn auch am schwersten. Staatspräsident Abdullah Gül spricht von einer "unangenehmen Situation" für ein entwickeltes und wichtiges Land wie die Türkei. Dem Präsidenten ist die Lage so peinlich, dass er am Sonntag persönlich einen Ausweg im Twitter-Streit suchte - und weiter twitterte. Istanbuls Gouverneur versicherte: Über Facebook sind wir noch zu erreichen. Kurioser geht es kaum.
Auf Wahlveranstaltungen wird Erdoğan weiter zugejubelt. Für seine Kernklientel hat er in den vergangenen zehn Jahren viel getan. Die Republik hatte die Religiösen lange an den Rand gedrängt. Die republikanische Opposition lernt erst gerade, dass sie keine Elitenpartei mehr sein darf, wenn sie die AKP ablösen will. Am 30. März wird das noch nicht passieren, aber die Wahlen könnten trotzdem eine Wende einläuten. Die Erdoğan-Partei bereitet sich schon auf ihre Nach-Erdoğan-Zeit vor.