Staatsanwältin Paule Somers hielt kurz inne, als sie die Anklageschrift vorlas, und entschuldigte sich: Nun komme ein besonders schwieriger Moment. Dann benannte sie mit ihrer feinen Stimme die Todesursache von 32 Frauen und Männern, Name für Name, Diagnose für Diagnose, von Gerichtsmedizinern erstellt. Manche der Opfer sind bis zur Unkenntlichkeit zerrissen worden von den Explosionen, die drei Selbstmordattentäter am Brüsseler Flughafen Zaventem und in der Brüsseler Metrostation Maelbeek ausgelöst hatten. Bei Angehörigen, die im Gerichtssaal zuhörten, flossen Tränen.
Mehr als sechseinhalb Jahre hat es gedauert, bis das belgische Trauma der islamistischen Terroranschläge vom 22. März 2016 vor Gericht aufgearbeitet werden kann. Viel zu lang, kritisierten Vertreter der Opfer. Zwei Monate sind zusätzlich verstrichen, weil die Vorsitzende Richterin Laurence Massart im September angeordnet hatte, den Gerichtssaal umbauen zu lassen. Die Angeklagten sollten nach dem Willen des belgischen Justizministeriums der Verhandlung in Einzelzellen aus Hochsicherheitsglas folgen, die Verteidiger protestierten gegen die Isolierung ihrer Klienten und bekamen recht. Und so hatte der Prozess schon vor seinem eigentlichen Beginn den Angeklagten einen Sieg beschert, eine Peinlichkeit für den belgischen Staat.
Die Anklageschrift hat 500 Seiten
Nun hat die Staatsanwaltschaft das Wort. Drei Tage hat sie Zeit, um die 500-seitige Anklageschrift vorzulesen. Mindestens acht Monate wird der Prozess dauern. Ein aufwändigeres Verfahren hat das Land noch nicht gesehen.
Für viele Millionen Euro ist auf dem Gelände des ehemaligen Nato-Hauptquartiers ein Hochsicherheitsgerichtsgebäude namens "Justitia" gebaut worden. Auch die Besetzung des Gerichts erforderte großen Aufwand. Nicht Berufsrichter, sondern die ganze belgische Gesellschaft soll ein Urteil fällen über die zehn Männer, die für die Anschläge verantwortlich gemacht werden. Das ist die Idee hinter der "Volksjury", wie das Schwurgericht in Belgien genannt wird. Tausend Frauen und Männer wurden aufgefordert, sich zur Verfügung zu stellen. 300 sagten ab, viele fühlten sich von der Aufgabe überfordert. Am Ende wurden per Los zwölf Geschworene und 24 Ersatzkandidaten bestimmt.
Richterin Massart erklärte den Geschworenen am Dienstag, wie sie ihre Aufgabe versehen sollen: verschwiegen gegenüber der Öffentlichkeit und offen für jedes Argument, das im Gerichtssaal vorgetragen wird, unparteiisch, aber nicht naiv. Dann wurde ihnen die Anklageschrift überreicht, damit sie mitlesen konnten, während Paule Somers und ihr Kollege Bernard Michel abwechselnd das Wort ergriffen.
Die beiden gingen zurück zu den Ursprüngen des "Islamischen Staates", dessen Kampf in Syrien und im Irak auch viele junge Belgier mit muslimischen Wurzeln faszinierte. Sie erwähnten den Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel 2014, der vier Menschen das Leben kostete, und die Schüsse in einem Thalys-Zug im August 2015. Die Täter stammten jeweils aus Belgien. Von Brüssel aus agierte auch die Terrorzelle, die am 13. November 2015 in Paris 130 Menschen tötete; der Rest der Gruppe begann danach, neue Anschläge vorzubereiten. Es traf Brüssel.
Salah Abdeslam wurde schon in Paris zu lebenslanger Haft verurteilt
Das Brüsseler Gericht wird in den nächsten Monaten gegen den Eindruck kämpfen müssen, es betreibe nur eine Zweitverwertung. Sechs Männer, die hier auf der Anklagebank sitzen, wurden im Sommer bereits in Paris verurteilt wegen ihrer Beteiligung an den Anschlägen vom 13. November 2015, unter ihnen Salah Abdeslam, der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Beim Prozess in Paris hatte er als einziger Überlebender des zehnköpfigen Todeskommandos willig die Hauptrolle angenommen. Als er dort nach seinem Beruf befragt wurde, antwortete er: "Ich habe jeden Beruf aufgegeben, um Kämpfer für den Islamischen Staat zu werden." Auf dieselbe Frage antwortete er am Montag in Brüssel: "Elektromechaniker."
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Die Anklage wird Abdeslam nachzuweisen versuchen, dass er im November 2015 unmittelbar nach den Pariser Anschlägen den Rest der Gruppe zu neuen Taten animierte und eine Hauptrolle bei der Vorbereitung von Anschlägen spielte. Die Verteidigung wird darauf verweisen, dass Salah Abdeslam nicht beim Mischen des Sprengstoffs beteiligt war und schon vier Tage, bevor die Selbstmordattentäter sich auf den Weg machten, von der Polizei gefasst worden war. Abdeslam empfinde keinerlei Verbindung zu diesen Taten, sagten seine Anwälte am Wochenende in einem Interview mit der Brüsseler Zeitung Le Soir.
Auch Salah Abdeslam ließ sich am Dienstag ein Exemplar der Anklageschrift reichen, um mitlesen zu können - als wolle er so besser verstehen, was ihm die belgische Staatsanwaltschaft vorwirft.