Eine Bestätigung gibt es bei Boko Haram fast nie. Vieles von dem, was über die nigerianische Terrormiliz im Umlauf ist, bleibt Spekulation; selbst zu ihren Anschlägen bekennen sich die Islamisten eher selten. So betrachtet ist auch bei der jüngsten Nachricht Vorsicht geboten: Angeblich hat Boko Haram einen neuen Anführer, Abu Musab al-Barnawi. In der neusten Ausgabe von al-Naba, einem Wochenmagazin des "Islamischen Staats" (IS), wird al-Barnawi als neuer Chef der Miliz vorgestellt und interviewt. Al-Barnawi war bisher wohl einer der Sprecher der Terrorgruppe; zumindest tauchte er in dieser Position in einem Boko-Haram-Video vom Januar 2015 auf - allerdings mit verpixeltem Gesicht.
Ob die Nachricht vom neuen Chef so stimmt, darf bezweifelt werden. Denn kurz nach der Veröffentlichung des Interviews am Mittwoch meldete sich der Mann zu Wort, der bisher als Kopf von Boko Haram firmierte: Abubakar Shekau.
Er sei betrogen worden, sagte er in einer Audiobotschaft. Al-Barnawi sei ein Ungläubiger und wolle ihn stürzen, doch er bleibe der wahre Anführer der "Vereinigung für die Verbreitung der Lehren des Propheten und des Dschihad" (so die Selbstbezeichnung der Gruppe, die lediglich im Volksmund Boko Haram heißt).
Ein Riss geht durch die Terrorgruppe
Um Shekau war es zuletzt lange ruhig gewesen; seine letzte Audiobotschaft stammt aus dem vergangenen August, sein letzter Videoauftritt ist noch älter. Viele Beobachter vermuteten bereits, dass er tot sei - gefallen im Kampf gegen die nigerianische Armee, die Boko Haram im vergangenen Jahr stark zurückdrängen konnte. Die jüngste Audiobotschaft beweist noch nicht, dass er am Leben ist, seine Stimme könnte imitiert worden sein. Doch die Aufnahme macht deutlich, dass ein Riss durch die Terrorgruppe geht. Zwar hatte Boko Haram schon länger als zersplittert gegolten, doch so offen haben Mitglieder der Gruppe noch nie ihre Machtkämpfe ausgetragen.
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Hintergrund der Führungskrise ist Analysten zufolge die Frage, wie eng die Anbindung Boko Harams an den IS sein soll. Unter Abubakar Shekaus Führung hatte sich die Miliz im März 2015 offiziell dem IS angeschlossen. Fortan bezeichneten sich die Islamisten auch als "Islamischer Staat, Provinz Westafrika". Zu diesem Zeitpunkt hatte Nigerias Armee gerade ihre erste ernsthafte Offensive gegen die Miliz gestartet. Die Anlehnung an den IS war vor allem als Propaganda interpretiert worden, mit der Boko Haram sich Rückhalt unter seinen Anhängern verschaffen wollte. Westliche Geheimdienste gingen bis vor Kurzem davon aus, dass es keine konkrete Zusammenarbeit zwischen Boko Haram und dem Kern des IS in Syrien und dem Irak gebe.
Das könnte sich aber geändert haben, zumal Boko Haram in Nigeria und den angrenzenden Staaten unter großen militärischen Druck geraten ist. Der Auftritt des mutmaßlichen neuen Chefs in einer IS-Publikation spricht für eine neue Art der Zusammenarbeit, zumindest was einen Teil der Miliz angeht.
Das Ende von Boko Haram? Oder doch nur weiteres Übel?
Die nun offensichtlich gewordene Spaltung hat nach Einschätzung von Experten vor allem der bisherige Anführer Shekau zu verantworten. Er gilt als unbeherrscht und brutal. Unter seiner Führung griff die Miliz Moscheen und Märkte an - Orte, an denen sich vor allem Muslime aufhalten. Dagegen sollen sich immer mehr Boko-Haram-Kämpfer gewehrt haben; auch für den IS scheint die Gewalt der Miliz an Sunniten nicht tragbar gewesen zu sein. Al-Barnawi kündigt in seinem Interview an, dass Boko Haram künftig Christen ins Visier nehmen werde, statt Muslime zu töten.
Bleibt die Frage, was die Spaltung der Miliz langfristig bedeutet. Sie könnte, so ein mögliches Szenario, das Ende der Islamisten im Nordosten Nigerias einleiten. Für wahrscheinlicher halten Analysten aber eine andere Entwicklung: Shekau und seine Getreuen könnten sich dem IS-Konkurrenten al-Qaida anschließen. Damit würden sie den tödlichen Wettbewerb zwischen den beiden Terrornetzwerken nach Nigeria tragen.