Syrien:Die Situation im Kampf um Idlib spitzt sich zu

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Syrische Flüchtlinge verlassen die Provinz Idlib. Kinder und Familien seien dort "gefangen in einer verzweifelten Situation voller Gewalt, bitterer Kälte, Nahrungsmangel und furchtbaren Lebensbedingungen", erklärte Unicef am Dienstag. (Foto: AP)
  • Erstmals seit 2011 kontrolliert das syrische Regime wieder die gesamte Provinz Aleppo, die einst wichtigste Hochburg der Rebellen.
  • Durch die Kämpfe um die letzte von Rebellen gehaltene Provinz Idlib wurden nach Angaben der Vereinten Nationen seit Anfang Dezember etwa 900 000 Menschen vertrieben.
  • Wegen getöteter Zivilisten spitzt sich das Verhältnis zwischen Russland und der Türkei zu. Sie machen sich gegenseitig dafür verantwortlich, dass die Lage eskaliert ist.

Von Silke Bigalke, Moskau, und Paul-Anton Krüger

An diesem Mittwoch schon soll der erste Linienflug seit Jahren in der syrischen Stadt Aleppo landen, eine Verbindung aus der Hauptstadt Damaskus, wie Verkehrsminister Ali Hammoud ankündigte. Ende der Woche soll dann auch die Autobahn M5, die direkte Verbindung zwischen den beiden Metropolen des Landes, wieder für Zivilisten befahrbar sein, berichtet die regierungstreue Zeitung al-Watan. Präsident Baschar al-Assad hielt im Fernsehen eine Siegesansprache, nachdem seine Truppen mehr als 30 Ortschaften westlich von Aleppo zurückerobert hatten. Das sei zwar noch nicht das Ende des Krieges, aber der Beginn der endgültigen Niederlage der Rebellen.

Es ist das erste Mal seit 2011, dass das Regime wieder die gesamte Provinz Aleppo kontrolliert. Anhänger Assads feierten in den Straßen von Aleppo, einst die wichtigste Hochburg der Rebellen. Der Vorstoß des Regimes hat Anfang Dezember mit einer massiven Offensive von Einheiten der syrischen Armee gegen die letzte von Rebellen gehaltene Provinz Idlib begonnen, flankiert von Angriffen russischer und syrischer Kampfjets und von Iran kontrollierten Milizen - wobei die Regierung in Teheran jede Beteiligung bestreitet.

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Während bei klirrender Kälte Hunderttausende Zivilisten leiden, ringen die Türkei und Russland in Idlib um die Macht. Der Konflikt könnte für Erdoğan zur innenpolitischen Existenzfrage werden.

Kommentar von Paul-Anton Krüger

Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden durch die Kämpfe 900 000 Menschen vertrieben, alleine in den vergangenen vier Tagen mehr als 40 000 durch die heftigen Kämpfe bei Aleppo. 80 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder, Zehntausende müssen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt im Freien schlafen. Bei den Angriffen seien seit Beginn des Jahres mindestens 300 Zivilisten getötet worden. Das bringt auch die Türkei und Russland auf Kollisionskurs. Moskau streitet jede Verantwortung dafür ab, dass sich die Lage zuspitzt. Auf den Wutausbruch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vergangene Woche reagierten das russische Verteidigungs- und das Außenministerium mit vollem Gegenangriff.

Syrische Truppen umstellen türkische Beobachtungsposten

Erdoğan warf dem syrischen Regime und Russland vor, Zivilisten anzugreifen und in Idlib ein Massaker anzurichten. US-Präsident Donald Trump forderte nach einem Telefonat mit dem türkischen Staatschef, Moskau müsse seine Unterstützung "für die Gräueltaten des Regimes" beenden. Er dankte der Türkei für ihre Bemühungen "eine humanitäre Katastrophe zu verhindern". Der türkische Präsident setzte Assad ein Ultimatum: Seine Truppen müssten sich bis Ende Februar hinter jene Linien zurückziehen, die er mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im September 2018 vereinbart hatte.

Die Türkei hatte in der Folge ein Dutzend befestigte Beobachtungsposten entlang der Linie errichtet, von denen inzwischen vier von syrischen Truppen umstellt oder abgeriegelt sind. Inzwischen hat Erdoğan gedroht, noch vor Ende des Monats eine Gegenoffensive zu starten, sollte der von ihm geforderte Rückzug nicht beginnen. Die Türkei hat in den vergangenen Wochen mindestens 5000 Soldaten und Hunderte Panzer und Artilleriegeschütze über die syrische Grenze nach Idlib verlegt und weitere 30 000 Soldaten sowie schwere Waffen an der Grenze zusammengezogen.

Zwar betonen der Kreml ebenso wie das Außen- und das Verteidigungsministerium in Moskau, dass man weiterhin mit Ankara verhandeln wolle. Alle bisherigen Versuche bleiben aber ohne Ergebnis. Anfang Februar war eine russische Delegation in die Türkei gereist, Anfang dieser Woche eine türkische Delegation nach Moskau. Außenminister Sergej Lawrow traf am Samstag in München auf der Sicherheitskonferenz seinen türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu. Lawrow sprach von guten Beziehungen, auch wenn man nicht immer übereinstimme. Militärische Vertreter beider Länder, so der Außenminister, seien in ständigem Kontakt miteinander.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Das Verteidigungsministerium in Moskau wies indes Erdoğans Anschuldigungen zurück. Vielmehr sei es die Türkei, die in Idlib die Lage verschärfe, indem sie Panzer und Truppen dorthin entsende. Die Zivilbevölkerung leide, weil sich die Terroristen "vor dem Gegenfeuer der syrischen Regierungstruppen hinter einem lebendigen Schild verstecken", hieß es in einer Mitteilung des Ministeriums. Die Botschaft aus Moskau ist klar: Nicht Russland, sondern die Türkei sei schuld an der Eskalation.

Moskau wirft Ankara vor, die Vereinbarungen von Sotschi nicht einzuhalten. Putin und Erdoğan hatten nicht nur eine Waffenruhe für Idlib beschlossen; die Türkei versprach im Gegenzug für Russlands Abwarten, Terroristen in Idlib von der gemäßigteren Opposition zu trennen und gegen dschihadistische Gruppen vorzugehen. Allerdings erlitten von der Türkei unterstützte Rebellengruppen militärische Niederlagen gegen die extremistischen Milizen der Hayat Tahrir al-Scham, die in Idlib inzwischen militärisch die stärkste Kraft sind.

Erdoğan steht wegen der syrischen Flüchtlinge innenpolitisch unter Druck

Lawrow sagte am Montag, diese Trennung sei "der Schlüssel zu allem anderen". Nur deswegen sei in Idlib eine Deeskalationszone eingerichtet und der Türkei erlaubt worden, Beobachterposten zur Überwachung der Pufferzone einzurichten. "Zugegebenermaßen hat ihre Anwesenheit die Situation verschlechtert und die Terroristen haben weiterhin syrische Positionen und unseren Luftstützpunkt angegriffen - etwas, das natürlich nicht unbeantwortet bleiben konnte", sagte er. Solche Anschuldigungen sind ein bekanntes Muster aus anderen Deeskalationszonen, die das Regime alle mit Russlands Hilfe zurückerobert hat.

Erdoğan steht unter großem innenpolitischen Druck, weil die türkische Bevölkerung sich zunehmend gegen die etwa drei Millionen syrischen Flüchtlinge wendet, die im Land Zuflucht gefunden haben. Von Idlib aus bleibt den Menschen aber nichts, als die Flucht in die Türkei. Das wiederum will Erdoğan in jedem Fall vermeiden.

Der regierungsnahe türkische Analyst Burhanettin Duran wertet die Verstärkung der türkischen Truppen in Idlib als Versuch, dort eine von der Türkei kontrollierte "Sicherheitszone" zu schaffen, ähnlich wie im Nordosten Syriens, wo die Türkei in zuvor von den kurdischen YPG-Milizen gehaltene Gebiete auf syrischem Territorium vorgestoßen war. Offen ist, ob Russland ein solches Vorgehen auch in Idlib tolerieren würde - oder ob es zu einer direkten Konfrontation kommt. In den vergangenen Tagen waren bereits zwei Hubschrauber der syrischen Armee abgeschossen worden, ob von Rebellen oder direkt von türkischen Truppen ist unklar.

© SZ vom 19.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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