Syrer in der Türkei:Volk auf der Flucht

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  • Mittlerweile ist der größte Teil des 23-Millionen Volks der Syrer auf der Flucht. Fast zwei Millionen sind in die Türkei gekommen.
  • Da die Hoffnung schwindet, in die Heimat zurückkehren zu können, machen sich viele nach Europa auf.
  • Die westliche Balkanroute wird immer attraktiver für die Flüchtlinge. Der Weg über Libyen ist gefährlich und teuer.
  • In der Türkei spitzt sich die Lage zu, weil durch die vielen Flüchtlinge die Mietpreise steigen und der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt heftiger wird.

Von Andrea Bachstein und Luisa Seeling, München

Um das Elend der Flüchtlinge zu sehen, reicht es, in Istanbul über den zentralen Taksim-Platz zu laufen und in die Einkaufstraße İstiklal Caddesi abzubiegen. Der Anblick syrischer Bettler am Straßenrand ist Normalität geworden, manchmal hocken da ganze Familien. Selbst die Kleinsten sind zu Ernährern geworden. Acht-, Zehnjährige verkaufen für ein paar Kuruş Wasser, Taschentücher oder Zigaretten an Touristen.

Mittlerweile ist der größte Teil des 23-Millionen Volks der Syrer auf der Flucht. Etwa vier Millionen sind dem Krieg in die Nachbarländer und nach Ägypten entkommen, ungefähr 350 000 nach Europa, innerhalb Syriens selbst sind sechs bis sieben Millionen Menschen zu Vertriebenen geworden. Fast zwei Millionen Flüchtlinge sind seit dem Kriegsbeginn 2011 in die Türkei gekommen, so zählt das Flüchtlingshilfswerks UNHCR, manche Schätzungen liegen höher. Nur etwa 200 000 leben in einem der 25 Lager nahe der Grenze.

Allein in Istanbul sollen es mehr als 400 000 Syrer sein

Die anderen leben - ja, wo eigentlich? Wer Ersparnisse hat oder wohlhabend ist, kann sich eine Wohnung leisten. Doch die meisten Syrer leben ohne staatliche Hilfe zu mehreren Großfamilien in winzigen Apartments, in Baracken, auf Baustellen, auf der Straße, allein in Istanbul sollen es mehr als 400 000 sein. Die Hürriyet Daily News berichtete, dass in zehn Städten fast so viele Syrer wie Türken leben.

Die Türkei hat mehr Syrer aufgenommen als jedes Nachbarland. Klar ist, dass die Behörden den Zuzug begrenzen wollen, weil die Kapazitäten erschöpft sind und man das Einsickern von IS-Kämpfern befürchtet. Auch sei die Motivation des Staats gesunken, Flüchtlinge von der Weiterreise abzuhalten, sagt Murat Erdoğan, Direktor des Forschungszentrums für Migration der Hacettepe-Universität. Mehr als sechs Milliarden Dollar habe das Land für Flüchtlinge ausgegeben, die Hilfe der EU sei viel zu gering. Dass sich jetzt viele Syrer nach Europa aufmachen, überrascht Erdoğan nicht. "Sie haben keine Hoffnung mehr, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Sie erhoffen sich bessere Chancen."

Das gilt nicht nur für Syrer in der Türkei, sondern auch für ihre Landsleute in Jordanien und Libanon sowie jene, die noch in ihrem Land sind. Dort wird das Überleben schwieriger. Hunderttausenden bleibt nur, in Ruinen zu hausen. Die Schlächter des IS dringen vor, Nahrung ist schwer zu finden, die Märkte funktionieren nicht mehr überall. Das Welternährungsprogramm WFP unterstützt in Syrien bis zu sechs Millionen Menschen. Es musste die Rationen kürzen - auch in Libanon und Jordanien. Dazu kommt, dass die eigenen Ersparnisse nach vier Jahren Flucht bei vielen Familien erschöpft sind.

In vier Jahren bilden sich auch Fluchtstrukturen, und sie scheinen auf sehr effizientem Niveau angelangt zu sein. Das liegt zum einen daran, dass bereits Hunderttausende Syrer in Europa sind, die Informationen an Landsleute weitergeben und Anlaufpunkte sind. Vor allem aber haben die Schlepper ihr System perfektioniert.

Statt Frachtern bringen jetzt kleine Boote die Menschen übers Meer

Hatte im Winter der türkische Hafen Mersin mit Frachtern als Fluchtschiffen Konjunktur, sind es wegen der Kontrollen der türkischen und griechischen Küstenwachen jetzt kleine Boote, die in den kleinen Häfen weiter westlich ihre menschliche Fracht übers Wasser bringen. Die Distanz zu griechischen Ägäis-Inseln ist kurz, nach Kos sind es vom türkischen Festland sieben, acht Kilometer. Flüchtlinge berichten, für die Überfahrt im Schlauchboot habe sich ein Einheitspreis von 1000 Dollar etabliert. Das ist wenig im Vergleich zu den oft 5000 oder gar 7000 Dollar, die Schleuser den Verzweifelten oft für die zentrale Mittelmeerroute abgenommen haben.

Die Preissenkung erlaubt es mehr Menschen, sich nach Europa aufzumachen. Nicht nur Syrer wagen sich deshalb auf die Ägäisstrecke, im Wissen, dass Griechenland sie praktisch ungehindert durchwinkt nach Mazedonien. Griechenland ist zur großen Pforte der EU geworden. Der Weg über die westliche Balkanroute erspart den Aufenthalt im unsicheren Libyen. Die UN-Organisation für Migration IOM berichtete am 24. August, dass seit 1. Juni 142 000 Menschen auf den ägäischen Inseln angekommen sind. Die meisten sind Syrer. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex stellte fest: Von 132 000 Menschen, die im Juni und August Ostmittelmeerroute genommen haben, waren mehr als 78 000 Syrer.

Dass derzeit so viele kommen, hat auch banale Gründe: Das Sommerwetter mindert das Risiko der Überfahrten übers Mittelmeer, und es hilft auf dem Landweg allen, die im Freien übernachten müssen.

In der Türkei spitzt sich die Lage zu

Die Türkei hält für die Syrer offiziell an der freundlich klingenden Bezeichnung "Gäste" fest. Von Anfang an betrieb sie eine Politik der offenen Tür: Präsident Recep Tayyip Erdoğan wollte seine Solidarität mit den Sunniten zeigen, die vor Baschar al-Assad fliehen. Die Türkei hoffte zunächst, Syriens Diktator würde bald stürzen und die Flüchtlinge könnten zurück.

Nun spitzt sich "die Situation im Land immer mehr zu", sagt Andrew Gardner, Türkei-Experte bei Amnesty International. Für Menschen außerhalb der Camps gebe es kein Versorgungssystem, ihnen fehle es am Nötigsten, an Kleidung, Wohnung, Bildung und Arbeit. Für Hakan Ataman, Menschenrechtsaktivist der Helsinki Citizens' Assembly, ist schon der Aufenthaltsstatus problematisch: Die Syrer bekämen nur einen befristeten Asylstatus. "Es gibt aber keine langfristige Integrationsstrategie." Zwar gebe es kostenfreie medizinische Grundversorgung, und wer sich registrieren lässt, soll bald leichter eine Arbeitserlaubnis kommen. Doch die meisten Syrer schlagen sich als Tagelöhner und Schwarzarbeiter durch.

Die sozialen Folgen sind spürbar: Wo viele Flüchtlinge leben, sind die Mieten dramatisch gestiegen, die Löhne sinken, weil viele Syrer zu niedrigsten Löhnen arbeiten. Das löst immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen aus.

© SZ vom 28.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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