Sturm auf die Stasi-Zentrale:Klirrende Fensterscheiben

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Vor 20 Jahren stürmten DDR-Bürger die Stasi-Zentrale in Ostberlin. Noch immer gibt es den Verdacht, dass der Geheimdienst selbst den Protest zum Eskalieren brachte.

Oliver Bilger, Berlin

Das Tor war offen, doch Hannelore Köhler fühlte eine Barriere vor sich. Vor einigen Tagen hatte sie ein Flugblatt der Bürgerbewegung Neues Forum in die Hand bekommen; ein Aufruf zur Demonstration vor dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit, um gegen die geplante Weiterarbeit der Stasi zu protestieren.

Demonstranten stürmen am 15. Januar 1990 die Zentrale der Staatssicherheit der DDR (Archivbild) (Foto: Foto: AP)

Die 38-Jährige zögerte nicht, der Aufforderung zu folgen. Seit Wochen hatten DDR-Bürger die Bezirksverwaltungen der Stasi in Erfurt, Leipzig und anderen Städten besetzt, damit dort nicht weiter Akten vernichtet werden. Nur in Berlin stopften Stasi-Mitarbeiter zunächst ungehindert massenhaft Unterlagen in den Reißwolf.

Doch das sollte sich am 15. Januar 1990 ändern. Es sollte der Tag werden, an dem das Volk den mächtigen Unterdrückungsapparat besiegte. Aufgebrachte Bürger drangen in die Stasi-Zentrale im Berliner Stadtteil Lichtenberg ein, nur Hannelore Köhler traute sich zunächst nicht durch das Haupttor.

Mit einer Arbeitskollegin war Köhler zur U-Bahnstation Magdalenenstraße gefahren. Um 16:35 Uhr kamen die beiden Frauen an, auch 20 Jahre später erinnert sich Köhler noch ganz genau.

Sie sah viele Menschen, "die so ein gewisses Lächeln auf den Lippen" trugen. "Es war wie ein stilles Einvernehmen", sagt Köhler heute. Die Menschen kannten einander nicht, wussten aber sofort, für welches Ziel sie hier gemeinsam eintraten. "Das war ein schönes Gefühl."

Zehntausende folgten dem Protestaufruf. "Die Ruschestraße war schwarz vor Menschen", erzählt Köhler. Sie stand vor dem Eingang, ganz weit vorne und dennoch etwas geschützt neben einem Stützpfeiler. "Es war ja nicht klar, ob alles friedlich bleiben wird."

Demonstranten rüttelten am Eingang, sie skandierten: "Macht das Tor auf!" Gegen 17 Uhr strömten die Menschen dann in den Hof des Stasi-Geländes zwischen Rusche- und Normannenstraße. Köhler sah, wie die Pforte von innen geöffnet wurde. Die ersten Menschen drängten hindurch. Sie zögerte, war verunsichert: "Was, wenn das Tor wieder schließt und ich gefangen bin?" Doch dann wagte sie den "schweren Schritt" über die Schwelle. "Gruselig" fand sie es trotzdem.

Der Menschenpulk bog nach links ab, zum Versorgungstrakt, statt die Büros anzusteuern. Dort plünderten sie Konservendosen mit Roastbeef und Haifischflossensuppe, selbst Zimmerpalmen schleppten sie hinaus. Es kam zu tumultartigen Szenen, Scheiben barsten, Möbel und Akten flogen aus den Fenstern.

Offene Fragen zu dem "Sturm auf die Stasi" blieben. War die Staatssicherheit selbst an der Aktion beteiligt? Oder vielleicht auch fremde Geheimdienste?

Köhler, die am selben Abend Sprecherin des Bürgerkomitees wurde und dafür sorgte, dass es nicht zu weiterer Eskalation kam, weiß nicht, wer die Menge nach links lenkte.

Während die ersten Demonstranten über den Innenhof liefen, klirrten Fensterscheiben. Aber es sei nicht möglich gewesen, dass jemand schon dorthin gelangt war. "Kurios", findet Köhler.

Noch heute ist das Interesse der Bürger an ihrer Vergangenheit ungebrochen. Im zurückliegenden Jahr wollten mehr als 100.000 Menschen einen Blick in die Stasi-Akten werfen.

Dabei glaubten Politiker ursprünglich, die Stasi-Unterlagen-Behörde werde zehn, maximal 15 Jahre arbeiten. Ihr Amt werde noch "geraume Zeit" gebraucht, sagt heute Marianne Birthler, die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen.

Sie findet es bemerkenswert, dass viele Menschen nach zwei Jahrzehnten Einsicht in die Papiere beantragen. "Viele haben anscheinend einen Sicherheitsabstand gebraucht und bislang Angst gehabt, dass es zu weh tut, in die Akten zu schauen."

© SZ vom 15.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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Christiane Wild

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