Mevlüde Genç gestorben:Die große Versöhnerin

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Mevlüde Genc nimmt 2018 am Ort des Brandanschlags an einem Gebet teil. (Foto: Marius Becker/dpa)

Mevlüde Genç verlor bei einem Anschlag von Rechtsextremisten auf ihr Wohnhaus in Solingen 1993 ihre Töchter und Enkelkinder - und stellte sich seither dem Hass mit ihrer eigenen Botschaft entgegen.

Von Jan Bielicki

Das Unheil kam in der Nacht über Mevlüde Genç und ihre Familie. In den frühen Morgenstunden des 29. Mai 1993 drangen vier Rechtsradikale in ihr Haus in der Unteren Wernerstraße in Solingen ein, im Flur übergossen sie eine Truhe mit Benzin und zündeten sie an. Das Feuer war verheerend. 17 Bewohner wurden zum Teil schwer verletzt. Und fünf Menschen starben. In dieser mörderischen Nacht verlor Mevlüde Genç ihre Töchter Gürsün und Hatice, ihre Enkelinnen Hülya und Saime, erst neun und vier Jahre alt, und ihre Nichte Gülüstan.

Für die Bundesrepublik war der Brandanschlag von Solingen ein Höhepunkt einer Welle rassistischer Gewalttaten, die damals über das Land schwappte. Für Mevlüde Genç zerstörte er, was ihr im Leben lieb war. "Nach 1993 ist meine Welt zusammengebrochen", sagte sie 20 Jahre später: "Ich habe fünf meiner Kinder an einem Tag verloren und am selben Tag in Särge gelegt." Sie sprach vom Schmerz, der sie nicht mehr losließ: "Ich kann ihn nicht mehr tragen."

"Dieses Land gehört auch uns"

Und doch fand sie die Kraft, der Gewalt, die ihr Kinder und Enkelkinder raubte, eine ganz andere Botschaft entgegenzusetzen. "Ich empfinde niemandem gegenüber Hass. Nur den vier jungen Männern gegenüber, die damals meinen Kindern den Tod gebracht haben, empfinde ich in meinem Innersten eine Abneigung. Sonst nicht. Dieses Land gehört auch uns", so und in ähnlichen Worten hat sie immer wieder erklärt, warum für sie das Land, in dem sie lebte, immer noch Heimat war - trotz allem und auch, obwohl der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sich geweigert hatte, zu einer Trauerfeier für die Opfer nach Solingen zu kommen.

Mevlüde Genç, aufgewachsen in einem Dorf im Norden Anatoliens und im Alter von 27 Jahren ihrem Mann Dursun nach Deutschland gefolgt, nahm nur zwei Jahre nach den Morden sogar die deutsche Staatsbürgerschaft an. Und sie hörte nicht auf, sich gegen den Rassismus in ihrer neuen Heimat einzusetzen. "Die beeindruckendste Frau, die ich jemals kennengelernt habe", nannte Nordrhein-Westfalens ehemaliger Ministerpräsident Armin Laschet sie.

Am Sonntag ist die vielfach ausgezeichnete Mevlüde Genç im im Alter von 79 Jahren in Solingen gestorben. Bundeskanzler Olaf Scholz würdigte sie ebenso wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb: "Unser Land hat eine große Versöhnerin verloren."

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