Brandanschlag von Solingen:"Ich vertraue unserem Staat"

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Überlebte den Brandanschlag von Solingen 1993: Mevlüde Genç (Foto: dpa)

Vor zwanzig Jahren verlor Mevlüde Genç bei dem Brandanschlag in Solingen fünf Familienmitglieder. Was sie nicht verlor, war der Glaube an Recht und Gesetze. Im Interview spricht sie über Rassismus, ihre Heimat - und die rechtsextreme Terrorzelle NSU.

Von Ayten Hedia

Ende Mai vor 20 Jahren starben beim Brandanschlag auf ein Haus in Solingen fünf Mädchen und Frauen der Familie Genç . Die vier Täter, die das Haus aus Ausländerhass in Brand gesteckt hatte, wurden 1995 vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Alle Anfragen für Interviews lehnte Mevlüde Genç bisher ab, es gab aber einen Presseauftritt am Donnerstag. Lediglich der freien Journalistin Ayten Hedia gab sie ein Wortlautinterview.

SZ: Was hat sich für Sie nach dem Brandanschlag von 1993 geändert?

Mevlüde Genç : Nach 1993 ist meine Welt zusammengebrochen, ich habe meine Kinder verloren. Es ist nicht einfach gewesen, den Schmerz zu ertragen. Mit dem Älterwerden ist der Schmerz sogar schwerer geworden. Ich kann ihn nicht mehr tragen. Ich habe fünf meiner Kinder an einem Tag verloren und am selben Tag in Särge gelegt. So etwas ist nicht einfach. Ich habe nachts geweint und mich tagsüber um meine anderen Kinder gekümmert. Ich habe meine Tränen nicht gezeigt.

Wie geht man mit dem Verlust und dem Schmerz um?

Ich danke meinem Staat, er hat immer zu mir gestanden, der deutsche Staat war immer für mich da. Ich bin zwar in der Türkei geboren, aber hier lebe ich jetzt. Ich bin sehr dankbar, dass ich hier bin und hier auch unser Brot verdient habe. Wir müssen zusammen leben wie Geschwister. Wir sind alle Menschen, die von Gott erschaffen wurden. Wir haben den gleichen Gott.

Wem geben Sie die Schuld für den Brandanschlag? Schließlich haben Sie das Wertvollste verloren.

Ja, ich habe das Wertvollste verloren, aber was soll ich sagen. Gott hat mir dieses Schicksal gegeben. Ich empfinde niemandem gegenüber Hass. Nur den vier jungen Männern gegenüber, die damals meinen Kindern den Tod gebracht haben, empfinde ich in meinem Innersten eine Abneigung. Sonst nicht. Dieses Land gehört auch uns.

Sie sagen, nur die vier Männer haben Schuld. Hat die Gesellschaft oder der Staat nicht eine Mitschuld. Der Staat muss doch alle Menschen beschützen?

Gott soll dem vergeben, der Schuld hat. Wenn Gott vergibt, dann werden die Menschen auch vergeben. Wir müssen an Gott und seinen Entsandten glauben. Überlasse alles Gott, denn er weiß alles.

Auch nach zwanzig Jahren gibt es immer noch Rassismus und Menschen werden aus diesem Grund getötet. Denken Sie an die NSU-Morde. Was haben Sie empfunden, als Sie davon erfahren haben?

Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Wir dürfen nicht sofort einander beschuldigen. Unser Staat kümmert sich darum. Er untersucht alle Vorgänge. Es gibt Recht und Gesetze. Natürlich habe ich auch Schmerz empfunden und habe Mitgefühl. Die haben auch alles verloren. Ich vertraue unserem Staat. Solange der Staat zu uns steht, wird er auch alles untersuchen. Das überlasse ich dem Staat. Ich kann das von meinen vier Wänden aus nicht beurteilen und habe auch keinen Einfluss von hier.

Sie haben großes Vertrauen in den Staat. Aber gibt es nicht Momente im Leben, in denen man denkt 'der Staat hätte sie besser beschützen können?

Der Staat schützt uns doch, was soll er denn noch machen. Er wird ja nicht nur an mich oder Sie denken, es gibt so viele Menschen, um die er sich kümmern muss. Die Türkei zum Beispiel hat sofort nach dem Brandanschlag reagiert und seine Vertreter geschickt. Was soll der Staat denn noch machen? Das passiert überall. Ich bin dem Staat sehr dankbar. Dem deutschen und dem türkischen Staat.

Haben Sie vor dem Brandanschlag Rassismus erlebt?

Nein, nie, überhaupt nicht. Ich habe vor 1993 nichts davon mitbekommen, niemand hat mir etwas Böses gesagt oder mich komisch angeschaut. Ich habe später nur gehört, dass die Täter gesagt hätten, sie wollen ein Haus anzünden, in dem Türken leben. Und wir waren die zufälligen Opfer. Ich habe keinen Hass, niemandem gegenüber. Meine Kinder haben weder geraucht noch getrunken, haben nicht draußen abgehangen. Sie haben keiner Seele was getan.

Sie sind in Solingen geblieben, warum?

Ich habe immer hier gelebt. Sowohl das Gute als auch das Schlechte der Stadt gehört zu mir. Ich empfinde Solingen genauso als meine Heimat wie die Türkei und liebe es hier genau so. Die schmerzliche und die schöne Seite gehören dazu. Ich kenne hier jede Straße. Ich kenne mich hier aus. In Köln zum Beispiel könnte ich mich nicht zurecht finden. Ich fühle mich hier überhaupt nicht fremd. Ich bleibe bis zu meinem Tod hier. Meine Kinder und ich. Ich habe meine Jugend hier verbracht.

Jahrestag in Solingen: Hier stand das Haus, auf das Rechtsextreme 1993 einen Brandanschlag verübten. (Foto: dpa)

Haben Sie nie daran gedacht, in die Türkei zu gehen?

Nein, ich denke überhaupt nicht daran. Meine Kinder sind hier. Meine Familie ist hier. In der Türkei habe ich niemanden, nur drei Geschwister und die leben alle woanders, einer in Istanbul, einer in Ankara und der andere ganz woanders. Ich verbringe sechs Monate hier, und sechs Monate in der Türkei. Die Luft und das Wetter sind dort besser. Da tanke ich Kraft.

Was bedeutet Ihnen denn Solingen?

Das ist meine Heimat. Ich bin mit 27 Jahren hierher gekommen, heute bin ich 70. In der Türkei kenne ich mich nicht aus. Hier weiß ich alles. In der Türkei brauche ich einen ganzen Monat, um mich an das Leben und die Menschen dort zu gewöhnen. Ich fühle mich da wie eine Fremde. Aber sobald ich hier in Düsseldorf auf dem Flughafen lande, spüre ich die Heimat. Ich habe viele Jahre hier verbracht.

Es gab damals viele Gerüchte, nachdem Sie das neue Haus bezogen haben. Hat man auch gesagt, Sie hätten das Haus selbst angezündet?

Nein, das habe ich gar nicht gehört. Die Leute reden über jeden schlecht. Ich habe das gar nicht ernst genommen. Egal was die Leute sagen, sie schaden nur sich selbst. Am Ende habe ich Recht behalten. Das waren alles leere Worte. Es gibt immer Menschen, die einen nicht leiden können. Ich kenne mich selbst ja am besten. Deshalb habe ich weggehört.

Gab es denn nach dem Brand von der Polizei Fragen oder Anschuldigungen, Sie hätten es selbst in Brand gesteckt?

Nein, nein, gar nicht, niemand hat so etwas gesagt.

Was empfinden Sie, wenn Sie heute in den Nachrichten hören, dass ein von türkischstämmigen Mitmenschen bewohntes Haus in Brand gesetzt wurde?

Ich kann nichts dazu sagen. Ginge es mir gesundheitlich besser, würde ich die Betroffenen besuchen und mein Mitgefühl zum Ausdruck bringen. Ich fühle natürlich genau den Schmerz, den ich auch durch meinen Verlust spüre. Aber wir wissen nicht, warum es gebrannt hat.

Die Medien haben zum 20. Jahrestag wieder starkes Interesse an dem Brandanschlag. Was bedeutet das für Sie?

Es sind zwanzig Jahre vergangen. Das ist in die Geschichte eingegangen. Deshalb muss ich natürlich darüber sprechen: Wenn die Medien nicht darüber berichten, wie soll man sonst davon erfahren? Das gehört dazu.

Zurück zu den NSU-Morden. Haben Sie die Entwicklungen beobachtet ?

Es wird alles ans Licht kommen. Vielleicht werden Jahre vergehen, aber am Ende wird bestimmt alles rauskommen.

Haben Sie die Hinterbliebenen kennengelernt?

Nein, ich habe nur Gamze Kubasik bei der Präsidentenwahl im letzten Jahr kurz getroffen. Sie war von den Grünen für die Bundesversammlung nominiert worden, ich von der CDU. Ich habe ihr mein Beileid ausgesprochen und ihr viel Geduld gewünscht. Sie hat ihren Vater verloren, ich meine Kinder. Wir müssen geduldig sein und wir müssen sensibel sein, habe ich gesagt.

© SZ vom 03.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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