Innere Sicherheit:"Niemand von uns hat eine Glaskugel"

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Zwei Beamte des Mobilen Einsatzkommandos verkabeln sich mit Abhörgeräten (Symbolbild). (Foto: dpa)
  • Dass Ahmad A., der in Hamburg auf Supermarktkunden einstach, psychisch labil war, war den Sicherheitsbehörden bekannt.
  • Jede Fehleinschätzung zu Gefährdern kann schwere Folgen haben - darum will kaum ein Sicherheitsbeamter mehr den Job machen.
  • Nicht nur Innenminister de Maizière mahnt: Auch erfahrene Experten können nicht in die Zukunft sehen.

Von Georg Mascolo und Ronen Steinke, München

Der Mann ist nicht zu sprechen. Weder für ehemalige Kollegen noch für das Landeskriminalamt in Hamburg und schon gar nicht für den Generalbundesanwalt. Der Mann steckt in Schwierigkeiten: Womöglich hat es allein an ihm gelegen, an einem einzelnen Polizeibeamten in Hamburg, dass der 26-jährige Palästinenser Ahmad A. nicht in psychiatrische Betreuung gegeben wurde, bevor er in einem Supermarkt einen Menschen erstechen und sieben weitere verletzen konnte.

Nach der Attacke zog die Staatsschutz-Abteilung des Landeskriminalamts (LKA) die dünne Akte von Ahmad A. heran. Zwei Beamte und eine Beamtin waren mit seinem Fall befasst gewesen, am Ende aber hatte die Entscheidung bei dem Hauptsachbearbeiter gelegen. Der schrieb am 9. Februar 2017 eine Gefährdungsbewertung, und er gab Entwarnung: Ahmad A. sei kein Fall für die Polizei. Das Flüchtlingsheim müsse entscheiden, ob eine psychiatrische Begutachtung angebracht sei. Fall erledigt. Der Beamte arbeitet seit einer Weile nicht mehr in Hamburg, sondern beim Staatsschutz in Berlin. Sofort nach dem Anschlag versuchte man, ihn zu erreichen. Er wollte nicht reden, und so ist es bis heute.

Intern soll der Beamte, der mit einer Richterin verheiratet ist, erklärt haben, er wolle gern helfen, er sehe auch die Notwendigkeit, schließlich müssten seine Kollegen den Fall aufklären. Aber er müsse sicher sein, dass sich die Ermittlungen nicht irgendwann auch gegen ihn richten. Unglücklich nennen sie das in der Hamburger Innenbehörde. Und obwohl man Verständnis hat für den Kollegen, gibt es die Sorge, dass sein Beispiel Schule machen könnte.

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Noch müssen Psychiater klären, was den Messerstecher von Hamburg ausrasten ließ. Die Frage ist von Bedeutung über den Fall hinaus. Denn Ahmad A.s Probleme wurden von Behörden erkannt und dann doch ignoriert.

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"Den Leuten in Berlin sitzt die Angst im Nacken"

Wenn Polizisten eine Einschätzung zu "Gefährdern" abgeben, können schon kleine Fehler schwere Folgen haben. Viele Beamte sind inzwischen überzeugt, dass ihnen keine Fehleinschätzung vergeben wird, sondern dass Medien und Politik sich sofort darauf stürzen. Im Hamburger Fall ist nicht einmal klar, ob es wirklich einen Fehler gab. Selbst das Landesamt für Verfassungsschutz traute Ahmad A. keine Gewalttat zu; allerdings riet man zu einer psychologischen Begutachtung. Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) hat zwar schon Fehler eingeräumt. Informationen seien nicht ausreichend weitergegeben worden. Die Frage allerdings, ob jemand hätte ahnen müssen, wozu Ahmad A. fähig ist, beantwortete auch er nicht.

Dass man in einen Menschen nicht hineinschauen kann, bekräftigt auch der langjährige Personenfahnder im LKA Berlin, Norbert Cioma: "Niemand von uns hat eine Glaskugel." Cioma betreut derzeit als Personalrat zwei Berliner Beamte, die beschuldigt werden, Akten im Fall des Berliner Attentäters Anis Amri verfälscht zu haben. Der Verdacht lautet, sie hätten vertuschen wollen, dass Amri nicht konsequent wegen Drogendelikten verfolgt wurde. Danach schlug Amri zu und tötete auf einem Weihnachtsmarkt zwölf Menschen. Damals waren weniger als zwanzig Beamte dafür verantwortlich, alle Gefährder der Millionenstadt laufend zu bewerten. Inzwischen ist die Zahl auf etwa 35 aufgestockt worden. Mittelfristig will die Polizei noch 100 weitere Beamte dafür rekrutieren. Die Stellen sind intern ausgeschrieben, doch kaum einer meldet sich. "Den Leuten in Berlin sitzt die Angst im Nacken", sagt Cioma.

"Ich schlafe mit meinem Handy auf dem Nachttisch", sagt ein Beamter, der mit Gefährder-Einschätzungen befasst ist. "Wann immer etwas passiert, hoffe ich, dass niemand der Täter war, den ich bearbeitet habe." Andere berichten von dem massiven Druck, den sie spüren. Es sei ungeheuer schwer einzuschätzen, wer tatsächlich gefährlich werde. Von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) stammt der Satz, an Kritiker der Polizei gerichtet: "Ich rate allen zu etwas mehr Vorsicht und Demut. Das sind verdammt schwierige Entscheidungen."

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Lange gab es keine bundesweiten Standards zur Beurteilung

Einheitliche Standards gab es lange überhaupt nicht, Beamte mussten sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. Hier soll ein neues Computerprogramm Abhilfe schaffen, Radar-ITE, das alle Bundesländer einführen wollen, um zu bestimmen, wer als Gefährder eingestuft wird und welcher Fall vorrangig behandelt wird. Aber ob die Prognosen dadurch nicht nur einheitlicher, sondern auch besser werden, muss sich erst zeigen. "Wir haben es weiter mit Menschen zu tun, die sich von heute auf morgen ändern", sagt Oliver Huth vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK).

Ein aktuelles Beispiel: Als am 29. Juni die Tour de France in Düsseldorf losging, bemerkte die Polizei, dass sich zwei Männer, die man als Gefährder auf dem Schirm hatte, bis auf 300 Meter dem Veranstaltungsort näherten. Die Beamten stoppten das Auto der Männer und hielten sie fest. Aber ein Richter ordnete an, sie wieder laufen zu lassen. "Wer sagt uns, wohin man einen Gefährder gehen lassen darf und wohin nicht?", fragt Oliver Huth. "Darf er aufs Oktoberfest?" Konkrete Antworten stünden nirgends, "und im Zweifel hält man für die Entscheidung den Kopf hin", sagt Norbert Cioma.

"Einen Fall wie in Hamburg wird man nicht verhindern können", gibt ein Landesinnenminister zu. Bei Ahmad A., dem psychisch auffälligen Asylbewerber, gab es nach näherem Hinsehen zwar Grund zu Besorgnis. Mehr aber nicht. Man müsse fair bleiben und auch verstehen, dass, wenn nicht gerade Alarmglocken läuteten, mal eine Akte wegen Personalnot liegen bleibe, so der Sicherheitspolitiker. Das hört man seit der Hamburger Messerattacke aus verschiedenen Ländern, gleich welche Partei regiert. Ein anderer Landesinnenminister sagt: Er staune, was manchmal Übermenschliches erwartet werde.

Nach dem Anschlag Amris hatte Nordrhein-Westfalens damaliger Innenminister Ralf Jäger (SPD) im Landtag gesagt, man müsse sich von der Vorstellung lösen, die Polizei könne jedes Attentat verhindern. Mit Jäger nahm es politisch kein gutes Ende. Rot-Grün in Düsseldorf wurde abgewählt. Heute sagen Innenminister zwar noch dasselbe. Aber ungern öffentlich.

© SZ vom 14.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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