Seenotrettung:"Carolas Festnahme war belastend für die Crew"

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Philipp Hahn, 42, ist Einsatzleiter auf der Sea-Watch 3. Er war seit 2015 an mehr als zehn Sea-Watch-Einsätzen im zentralen Mittelmeer und der Ägäis beteiligt. (Foto: Sea Watch)

Der Einsatzleiter der "Sea-Watch 3", Philipp Hahn, beschreibt den denkwürdigen letzten Rettungseinsatz, erklärt, warum er noch an Bord des festgesetzten Schiffes ist und spricht über vorhandene und fehlende Unterstützung. 

Interview von Jana Anzlinger

"Build bridges, not walls": Während deutschlandweit Menschen mit diesem Slogan für Seenotrettung demonstrieren, wartet die Kapitänin des privaten Rettungsschiffs Sea-Watch 3 in Italien auf ihren Prozess. Die Crew hatte 53 Menschen aus Seenot im Mittelmeer gerettet und dafür gesorgt, dass sie sicher nach Lampedusa kamen. Carola Rackete ist direkt nach dem Anlegen in Italien vorübergehend festgenommen worden, nun wird ihr "Beihilfe zur illegalen Einwanderung" vorgeworfen. Einsatzleiter Philipp Hahn, der die Rettungsaktionen organisiert und die Zusammenarbeit der Crew koordiniert, gibt sich kämpferisch.

SZ: Herr Hahn, wir erreichen Sie telefonisch an Bord der "Sea-Watch 3", die vorübergehend beschlagnahmt ist und in einem italienischen Hafen liegt.

Philipp Hahn: Genau. Ich stehe gerade auf der Brücke. So ein Schiff muss permanent überwacht werden, hier laufen Maschinen, Generatoren, Kompressoren und so weiter. Deshalb sind einige Crewmitglieder an Bord, obwohl die Sea-Watch 3 im Hafen liegt und nicht auslaufen darf. Wir kümmern uns um das Schiff und bereiten es auf unseren nächsten Rettungseinsatz vor.

Wie ist die Stimmung bei Ihnen?

Inzwischen ist Ruhe eingekehrt und ein bisschen Optimismus kommt zurück. Das ist immer so, dass man nach einem Einsatz eine ganze Zeit lang braucht, bis man wieder frei atmen kann. Dieses Mal war es besonders anstrengend. Sowohl der Einsatz als auch Carolas Festnahme waren belastend für die Crew.

Italien wollte Sie nicht anlegen lassen, weil Sie Geflüchtete an Bord hatten. In derselben Situation war gerade die "Alan Kurdi", ein deutsches Rettungsschiff, das am Sonntag in Malta anlanden konnte. Haben Sie Kontakt zu der Crew?

Ja, wir Seenotretter sind immer im regen Austausch. An Bord waren 64 Menschen, die die Alan Kurdi vor Libyen gerettet hat. Ich kenne die Alan Kurdi selbst, es handelt sich um ein umgebautes Forschungsschiff. Dort ist es kaum möglich, so viele Menschen längerfristig zu versorgen. Die Situation war also genauso wie bei uns.

Ihre Kapitänin hat entschieden, im Hafen von Lampedusa anzulegen. Sie hat das mit der desolaten Lage an Bord begründet. War es wirklich so schlimm?

Wir hatten Mitte Juni 53 Menschen vor dem Ertrinken gerettet und an Bord genommen. Die meisten kamen ursprünglich aus Zentral- und Westafrika, einige aus Nordafrika. Es war eine gemischte Gruppe von Frauen, Männern und Kindern mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Fluchtgründen. Wir sind darauf ausgelegt, Soforthilfe zu leisten, aber nicht darauf, mehr als zwei Wochen lang Menschen zu beherbergen. Die Geretteten mussten sich auf dem Deck zusammenpferchen, nachts dort schlafen und tagsüber die Sonne aushalten. Italien will sowieso nur Schiffe mit Flüchtlingen anlegen lassen, wenn andere Länder diese aufnehmen. Während wir auf dem Mittelmeer waren, hat Innenminister Matteo Salvini noch dazu ein Dekret verabschiedet, das privaten Seenotrettern verbietet, unerlaubt in italienische Hoheitsgewässer einzufahren. Bis jetzt ist es nicht umgesetzt, Teile gelten als verfassungswidrig. Bei uns an Bord sind wir von Anfang an transparent damit umgegangen, dass wir wegen der Drohungen aus Italien noch nicht an Land können und die innenpolitische Lage analysieren müssen. 34 Gerettete haben daraufhin mit unserer Unterstützung eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht, die aber abgewiesen wurde. Als sie das erfahren haben, wollten manche über Bord springen.

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Sie hätten die Menschen nach der Rettung direkt zurück nach Libyen bringen können.

Libyen befindet sich im Bürgerkrieg. Die dortigen Flüchtlingslager sind menschenunwürdig, die Menschen laufen größte Gefahr, in Zwangsarbeit zu enden und in sklavenähnlichen Zuständen leben zu müssen. Vor Kurzem sind in einem solchen Lager 200 Geflüchtete bei einem Bombardement getötet worden. Das Seerecht verpflichtet dazu, jeden aus dem Meer geretteten Menschen - egal, wer das ist - an den nächsten sicheren Ort zu bringen. Und der ist von dem Rettungsgebiet aus eben Lampedusa.

Nach 17 Tagen sind wir schließlich in Italiens territoriale Gewässer eingefahren und haben mit den Behörden vereinbart, dass die innerhalb von 60 Stunden eine Lösung finden sollten. Die Lösung kam aber nicht. Nur einige Kranke wurden von Bord geholt. Bei den übrigen 40 Geretteten brach die Hoffnung endgültig zusammen. Die Geretteten waren komplett fertig. Es war klar: Jetzt gibt es keine anderen Möglichkeiten als in den Hafen einzufahren, auch wenn es uns von den Behörden verboten wurde.

Bundesaußenminister Maas hat den Umgang mit Rackete scharf kritisiert, das Verhalten der italienischen Regierung hat einen Zwist zwischen Rom und Berlin ausgelöst. Freuen Sie sich, dass die Bundesregierung hinter Ihnen steht?

Diese solidarischen Bekenntnisse aus der Politik kamen reichlich spät. Die hatten 17 Tage Zeit, sich zu solidarisieren und auf die italienische Regierung einzuwirken. Und sie hatten zuvor viele Jahre Zeit, eine Situation zu schaffen, in der es keine privaten Seenotretter bräuchte, was uns allen am liebsten wäre. Stattdessen beschneidet die große Koalition das Recht auf Asyl.

Oft werden Bundesregierung und Kanzlerin eher umgekehrt kritisiert: Sie hätten zu viele Geflüchtete ins Land gelassen und seien nicht streng genug dabei, diese wieder heimzuschicken.

Die aktuelle Politik widerspricht dieser öffentlichen Wahrnehmung. Die Bundesregierung mag ja irgendwo aktiv geworden sein. Aber sie scheut sich trotz allem, eine europäische Lösung herbeizuführen - und die braucht es, um das Dublin-System abzulösen.

Dieses System hat dazu geführt, dass Länder wie Italien von der hohen Zahl Ankommender überfordert wurden. Macht das die harte Linie Roms für Sie nachvollziehbarer?

Italien hat jahrelang enorm viele Menschen aufgenommen und sich damit komplett alleingelassen gefühlt. Dafür gebührt dem Land voller Respekt. Trotzdem könnte die neue Regierung ja vernünftige Politik machen und den Druck in die EU weitergeben, statt ihn auf dem Rücken der Migranten auszuleben - oder uns NGOs zu kriminalisieren. Diese Kriminalisierung hat ja nicht erst jetzt begonnen, sondern schon vorletzten Sommer, als die Iuventa, das Rettungsschiff einer deutschen Jugendorganisation, beschlagnahmt wurde. Gegen zehn ehemalige Crewmitglieder wird bis heute ermittelt. Über das Schicksal unserer Kapitänin ist auch noch nicht entschieden: Sie ist zwar auf freiem Fuß, muss aber am Dienstag wieder vor Gericht.

In Deutschland sehen viele Rackete als Heldin. Am Samstag gab es bundesweit "Seebrücke"-Demonstrationen. Warum solidarisieren sich plötzlich so viele Menschen mit Seenotrettern?

Wir haben schon seit 2015 viel Solidarität erfahren, sie ist Teil unseres Treibstoffs hier an Bord. Wir erhalten viele kleine Einzelspenden oder auch Zuschriften, die uns darin bestärken, weiterzumachen. Solche Aktionen wie die am Samstag geben uns einen starken Rückhalt. Ich glaube, immer mehr Menschen solidarisieren sich mit Sea-Watch, weil sie unzufrieden mit der Migrationspolitik sind, die auf Abschottung und die Zusammenarbeit mit allen möglichen Regimen setzt. Die Menschen in Deutschland und auch im Rest Europas wünschen sich eine Politik, die auf humanitäre Art und Weise mit solchen Herausforderungen umgeht.

Wenn die sich das alle wünschten, hätten sie wohl kaum bei den vergangenen Wahlen für Parteien gestimmt wie die AfD oder Salvinis Lega.

Ja, ich frage mich auch, wie einerseits die Stimmung so solidarisch sein kann und andererseits so viele Rechte und Populisten wählen. Meine Wahrnehmung ist, dass es am Versagen der etablierten Parteien liegt, die immer noch herumlavieren und nicht in der Lage sind, Antworten darauf zu finden, dass Menschen aus dem globalen Süden in den reichen Norden ziehen.

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