Coronavirus in der Schweiz:"Ganz nah an einem exponentiellen Wachstum"

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Szene am Hauptbahnhof in Zürich: Die Neuinfektionen in der Schweiz nehmen zu. (Foto: Arnd Wiegmann/Reuters)

Die Neuinfektionen nehmen deutlich zu, dennoch will die Schweizer Regierung in wenigen Wochen Großveranstaltungen wie Konzerte wieder erlauben. Experten fürchten ein "Desaster".

Von Thomas Kirchner

In seinem wöchentlichen Bericht meldete das Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) am vergangenen Mittwoch 274 Ansteckungen mit dem Coronovirus innerhalb eines Tages. Es war der höchste Wert seit dem 20. April, als die erste große Welle langsam abebbte, und verhältnismäßig viel für das kleine Land. Die Regierung, der Bundesrat, reagierte darauf jedoch mit einem kräftigen Schritt in Richtung Lockerung: Das Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern - neben der Maskenpflicht im Öffentlichen Verkehr die letzte wichtige Kontaktschutzmaßnahme - soll nur noch bis Ende September gelten. Danach wären große Konzerte, Opern, Fußballspiele mit vielen Zuschauern oder religiöse Großveranstaltungen wieder erlaubt. Am Sonntag wurden erneut 200 Neuinfektionen bestätigt.

Veranstaltungen sollen allerdings jeweils nur mit Einzelgenehmigung und unter "strengen Schutzmaßnahmen" erlaubt sein. Wie sie aussehen, ist noch offen; Bund und Kantone sollen möglichst einheitliche Kriterien erarbeiten. Die Kantonsregierungen, die für deren Umsetzung und Kontrolle verantwortlich sein werden, reagierten ungehalten. Die Entscheidung sei gegen den Willen der Mehrheit der Kantone getroffen worden, erklärte etwa die Solothurner Staatskanzlei. Sie selbst habe die Wiederzulassung von Großveranstaltungen "entschieden abgelehnt". Die derzeit "sehr labile" Lage rund um das Coronavirus lasse eine weitere Öffnung nicht zu.

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In der ersten Phase eines vierstufigen Öffnungsplans darf die Arbeit auf den mehr als 32 000 Baustellen der Stadt wieder aufgenommen werden. In Brasilien wächst die Wut auf Präsident Bolsonaro.

Aber auch viele Experten quittierten den Beschluss mit Kopfschütteln. Der Bundesrat "schlafwandle in ein Desaster", schrieb die Berner Epidemiologin Nicola Low, Mitglied der Covid-19-Taskforce, auf Twitter, sie sei "sprachlos". Nachricht des Tages sei am Mittwoch die "erschreckend" hohe Zahl von Fällen gewesen, insofern hätte sie neue Maßnahmen zur Eindämmung des Virus erwartet. Eine Basler Kollegin zeigte sich "entsetzt". Der Präsident der Taskforce, Martin Ackermann von der ETH Zürich, hatte vor dem Schritt der Regierung gewarnt. Er komme zum falschen Moment. "Wir sind ganz nah an einem exponentiellen Wachstum und haben deshalb praktisch keinen Spielraum mehr." Weitere Lockerungen wie die Bewilligung von Großveranstaltungen seien "in dieser heiklen Situation" nicht drin. Auch das BAG hatte empfohlen, "einen Gang höher" zu schalten und strengere Maßnahmen zu ergreifen. In Deutschland bleiben Großveranstaltungen vorerst bis Ende Oktober verboten.

Es sei ein "heikler Schritt" und ein Risiko, räumte Gesundheitsminister Alain Berset ein, schließlich stiegen die Zahlen seit Ende Juni wieder. Doch anders als bei der ersten Welle explodierten sie derzeit nicht. "Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben."

Die Schweiz war, nicht zuletzt wegen der Nähe zu Italien, früh vom Coronavirus betroffen und hatte vergleichsweise hohe Fallzahlen, auf dem Höhepunkt Ende März knapp 1500 am Tag. Zeitweilig schien es, als könnten die Intensiv-Kapazitäten nicht ausreichen. Mit konsequenten Kontaktbeschränkungen gelang es aber, die Zahlen schnell zu senken. Die Mund- und Nasenbedeckung wurde zunächst abgelehnt, erst seit Juli gilt eine Maskenpflicht im Öffentlichen Verkehr. Clubs und Discotheken sind, anders als in den meisten anderen Ländern, seit Wochen wieder offen, die Kontaktbegrenzungen wurden weitgehend aufgehoben. Die Schweiz sei in dieser Hinsicht "liberaler als Schweden", urteilen Experten.

Die Unterhaltungsbranche sowie Fußball- und vor allem Eishockeyclubs hatten in den vergangenen Wochen eindringlich vor einer Pleitewelle gewarnt und den Bundesrat mit Appellen bearbeitet, die in Bern offenbar Gehör gefunden haben. Offizielle Strategie der Regierung ist eigentlich noch immer die "Eindämmung" des Virus, also der Versuch, die Fallzahlen so gering wie möglich zu halten, vor allem durch Nachverfolgung der Kontakte, ausgiebiges Testen und die Isolierung von Infizierten. Mit den aktuellen Zahlen - am Freitag wurden 268 Fälle gemeldet - sei die Nachverfolgung gerade eben noch möglich, sagte Tanja Stadler, Taskforce-Mitglied von der ETH Zürich, der SZ. "Wenn wir wieder stärker lockern, droht die Gefahr eines exponentiellen Anstiegs an Neuinfektionen. Dann sind wir schnell bei vielen hundert Fällen pro Tag, und das bedeutet, dass wir die Kontakte nicht mehr nachverfolgen können. Ohne das sogenannte Contact Tracing ist aber eine Eindämmungsstrategie nicht möglich, weil wir die Übertragungsketten nicht mehr durchbrechen können." Derzeit seien viele jüngere Menschen betroffen. "Aber wenn es Tausende Fälle sind, können wir Bevölkerungsgruppen mit erhöhtem Risiko nicht schützen und die Krankenhäuser werden sich füllen."

Auf die Kritik der Experten folgte Kritik an den Experten. Die etwa 60 Mitglieder der Taskforce sollten sich "zurückhalten" und "nicht zu stark öffentlich äußern", mahnten Abgeordnete verschiedener Parteien, sie trügen "zur Kakofonie und somit zur Verunsicherung der Bevölkerung bei". Taskforce-Präsident Ackermann wies die Vorwürfe zurück. Er selbst spreche für das Gremium, alle anderen sollten ihre private Meinung aber frei äußern dürfen.

In der Schweizer Öffentlichkeit sind, nicht anders als in Deutschland, Müdigkeit und Verdruss zu erkennen angesichts der Einschränkungen durch das Virus. Deshalb kommt in jüngster Zeit verstärkt der Wunsch nach einer Alternative auf. Die Medien lassen Wissenschaftler zu Wort kommen, die die Eindämmung in Frage stellen, weil sie "sehr ehrgeizig" sei und auf vorerst unabsehbare Zeit zu großen Einschränkungen führe. Das sei den Menschen und der Wirtschaft kaum zuzumuten. Daher spielen sie mit dem Gedanken, die Ansteckung des weniger verletzlichen Teils der Bevölkerung in Kauf zu nehmen und die Risikogruppen zu isolieren. Vertreten werden solche Ansichten zwar nur von wenigen. In Diskussionssendungen, wie etwa diese Woche im "Club" des Schweizer Fernsehens, stellen sie aber gelegentlich 50 Prozent der Teilnehmer und sind damit grob überrepräsentiert.

Stadler setzt nun auf die Kantone. Dort müsse man überlegen, "welche Maßnahmen das Infektionsgeschehen eindämmen, ohne den Einzelnen zu sehr zu tangieren". Spielraum gebe es genug, schließlich habe etwa der Kanton Genf die Clubs längst wieder geschlossen.

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