Wer dieser Tage durch die Schweiz reist, erkennt kaum einen Unterschied zur Vor-Corona-Zeit. Gleich hinter der Grenze bei St. Margrethen fallen die Masken im Zug, und ob in Basel, Zürich oder Olten - fast niemand verhüllt das Gesicht im öffentlichen Raum. Die Clubs sind wieder voller Raver, die Badeanstalten voller Menschen, die sich zur Begrüßung dreimal auf die Wangen küssen.
Der Preis der Sorglosigkeit: Die zweite Welle ist gekommen. Und zwar mit Wucht. 116 Ansteckungen innerhalb von 24 Stunden meldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am Donnerstag. Dreistellige Zahlen hatte es wochenlang nicht mehr gegeben. In den sieben Tagen zuvor war eine Steigerung um 138 Prozent gegenüber der Vorwoche verzeichnet worden, das ist im internationalen Vergleich eine sehr schnell steigende Rate von Neuinfektionen.
Die Reproduktionszahl R, die anzeigt, an wie viele Personen Infizierte das Virus im Durchschnitt weitergeben, wird zurzeit auf 1,4 geschätzt. Das ist insofern schade, als es der Schweiz durch monatelange Disziplin gelungen war, Neuansteckungen auf ein Niveau von nur um die 20 neuen Fällen pro Tag zu drücken.
Die Entwicklung sei "sehr besorgniserregend", warnte die Zürcher Professorin Tanja Stadler, Mitglied der Covid-19-Taskforce. Die Regierung hat nun reagiert. Am Mittwoch erließ der Bundesrat eine Maskenpflicht für den öffentlichen Verkehr von Montag an. Reisende aus "Risikogebieten" müssen künftig zehn Tage lang in Quarantäne. Dazu zählen wohl Serbien und andere Balkanstaaten sowie Schweden. Die Liste steht noch nicht. Je länger sie wird, desto wahrscheinlicher käme es wegen der dann nötigen Kontrolle zu neuerlichen Beschränkungen bei der Einreise.
Zu einem kleinen Teil kann der Anstieg bei den neu gemeldeten Ansteckungen am vermehrten Testen liegen sowie an Einschleppung aus dem Ausland. Vor allem aber sind es lokale Herde in den Kantonen Aargau, St. Gallen und Zürich, in der Regel durch das Nachtleben.
Coronavirus:Die Pandemie trifft den Balkan mit voller Wucht
Bislang blieb die Region von Corona verschont. Warum sich das nun geändert hat - und die österreichische Regierung sogar eine Reisewarnung verhängt.
300 Clubgäste mussten in Quarantäne
So steckte ein "Superspreader" in einem Club nahe dem Zürcher Hauptbahnhof kürzlich fünf Personen an, die - wie er - dann noch durch andere Lokale zogen. 300 Anwesende im Club mussten in Quarantäne. Viele Gäste hatten jedoch keine oder falsche Kontakt-Angaben gemacht, eine Praxis, die weit verbreitet sein dürfte.
Zuletzt hatten mehrere Experten die Regierung zu einem strikteren Vorgehen gedrängt. Der viel beachtete Epidemiologe Marcel Salathé forderte nachdrücklich eine Pflicht für Masken in Verkehrsmitteln. Sie wurden bisher nur empfohlen. Das BAG hatte die Mund- und Nasenbedeckung wiederholt als wenig nützlich im Kampf gegen die Epidemie bezeichnet. Wohl auch deshalb ist die Tragedisziplin in der Bevölkerung relativ gering.
Überhaupt dürfte es schwierig werden, insbesondere jüngeren Schweizerinnen und Schweizern die Rückkehr zu einem strikteren Corona-Regime zu vermitteln. Die Regierung hatte am 22. Juni fast alle Beschränkungen aufgehoben, nicht zuletzt mit Blick auf die erheblichen wirtschaftlichen Folgen. Die Sperrstunde für Restaurants und Diskotheken fiel, bis zu 1000 Menschen dürfen auf Veranstaltungen, der Mindestabstand beträgt statt zwei nur noch 1,5 Meter.
Mit mehr Sorgfalt und Personal sollen nun Kontakte von Infizierten nachverfolgt werden. Das sei eine "herausfordernde" Aufgabe, hieß es nach der jüngsten Ansteckungswelle vonseiten der Zürcher Kantonsregierung. Waren es vor Kurzem zwei bis drei Personen, sind Virusträger derzeit im Schnitt mit 15 bis 20 Personen in Berührung gewesen.
Die seit einer Woche verfügbare Schweizer Tracing-App ist bisher von etwa einer Million Bürgern heruntergeladen worden. Das ist aber noch nicht ganz der Anteil, der einen echten Nutzen erzeugen würde.
Der Bundesrat, die föderale Schweizer Regierung, scheint sich wieder stärker ins Krisenmanagement einschalten zu wollen. Er hatte kürzlich die umfangreichen Notrechts-Befugnisse abgegeben, die er sich zu Beginn der Pandemie genommen hatte. Da nun die Kantone in Verantwortung sind, drohte zuletzt ein Flickwerk an Regeln zu entstehen.