Corona-Tests an Schulen:Gefahr verkannt, Schüler verbannt

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Keine andere Altersgruppe wird so intensiv auf Corona getestet wie Kinder und Jugendliche im Schulalter. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Die Politik begründet zögerliche Schulöffnungen mit stark gestiegenen Infektionszahlen unter Schülern. Doch die könnten auch aus den jüngsten Teststrategien resultieren. Liegt ein fataler Fehlschluss vor?

Von Jan-Martin Wiarda, Berlin

Als Mecklenburg-Vorpommern Anfang Mai die Corona-Maßnahmen für Touristen lockerte, gab es lauten Protest. Vollständig Geimpfte aus anderen Bundesländern dürften wieder ihre Zweitwohnung besuchen oder als Tagestouristen kommen, hatte die Landesregierung als Reaktion auf ein Gerichtsurteil verkündigt. Das hieß aber auch: Kinder sollten weiter zu Hause bleiben - denn sie können noch gar nicht geimpft werden. Nach empörten Aufrufen zum Urlaubsboykott beeilte sich die Regierung zu erklären, Kinder seien ja ohnehin von den Kontaktbeschränkungen ausgenommen.

Alles nur ein Missverständnis? Selbst wenn, es würde dazu passen, wie sich in Deutschland der Blick auf die Rolle verändert hat, die Kinder und Jugendlichen im Infektionsgeschehen spielen. Bis in den Herbst letzten Jahres lagen die Sieben-Tages-Inzidenzen der unter 15-Jährigen in Deutschland durchgängig unterhalb von 20. Die Weltgesundheitsorganisation registrierte weltweit vergleichsweise wenige Ausbrüche unter Beteiligung von Kindern oder Schulen. Noch im Februar 2021 verkündete auch das Robert Koch-Institut (RKI) in einem epidemiologischen Bulletin, Schülerinnen und Schüler spielten "eher nicht" als "Motor" der Pandemie eine größere Rolle.

Mitte März warnte RKI-Chef Lothar Wieler dann, die Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen stiegen "sehr rasant" an. Es könne sein, dass die ansteckendere, zuerst in Großbritannien beobachtete Virusvariante B.1.1.7 hierbei eine Rolle spiele. Schon im Dezember 2020 hatte der Infektionsforscher Neil Ferguson vom "Imperial College" in London gesagt, dass Kinder für die B.1.1.7 wohl anfälliger seien.

Tatsächlich entwickelten sich die Corona-Kurven bis Ende April auch in Deutschland bei den Fünf- bis 14-Jährigen besorgniserregend: Innerhalb von zehn Wochen verachtfachten sich die Infektionszahlen in dieser Altersgruppe - während sie in der Gesamtbevölkerung nur um das Dreifache stiegen. Diese Werte, vor allem aber ihre Interpretation durch das RKI und andere, zeigten Wirkung: Die Politik änderte ihre Strategie im Umgang mit Kitas und Schulen grundsätzlich.

Grundschüler stecken immer noch im Wechselmodell fest

Bis kurz vor Weihnachten hatten die Länder die Einrichtungen trotz gesamtgesellschaftlicher Inzidenzen von 200 und mehr offengehalten. Klassen und Gruppen wurden nur dort vorübergehend geschlossen, wo Corona-Fälle vermutet oder nachgewiesen wurden.

Anders im neuen Jahr: Die allermeisten Grundschüler sind bis heute noch nicht über den stark reduzierten Präsenzunterricht im Wechselmodell hinausgekommen. Nicht einmal dort, wo es 80, 50 oder noch weniger Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen gab. Und die meisten Mittelstufenschüler haben ihre Schulen seit Dezember überhaupt nur an wenigen Tagen von innen gesehen, einige nicht einmal das.

Von einem der Länder mit dem im internationalen Vergleich geringsten Corona-bedingten Unterrichtsausfall im Jahr 2020 ist die Bundesrepublik damit zu einem derjenigen Staaten geworden, die den Kindern und Jugendlichen am wenigsten schulische - und sonstige - Teilhabe ermöglichen. Dagegen hielten etwa die Niederlande, Frankreich und Irland ihre Schulen trotz teilweise deutlich höherer Inzidenzen fast komplett oder überwiegend offen.

Das hat erstens damit zu tun, dass in diesen Ländern offenen Schulen eine höhere politische Priorität eingeräumt wurde als hierzulande, wo mittlerweile sogar Biergärten, Hundeschulen und Hotels öffnen und zugleich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit dem Satz zitiert wird, es mache "keinen Sinn, die Schulen jetzt aufzumachen - ohne einen Plan zu haben". Zweitens begründet man in Deutschland den restriktiven Kurs aber auch mit den im Frühjahr stark gestiegenen Neuinfektionen unter Kindern und Jugendlichen.

Doch diese sind weniger eindeutig, als es zunächst den Anschein hat.

Belegen hohe Inzidenzen, dass Schüler sich öfter anstecken?

Zwar zogen die Infektionszahlen tatsächlich besonders dann an, sobald Einrichtungen geöffnet wurden - viele werteten das als Beleg für eine epidemiologische Gefährdung durch den Präsenzunterricht. Doch wenn die Zahlen schon in der ersten Öffnungswoche deutlich nach oben klettern, kann das nicht am Schulbesuch liegen. Schließlich beträgt die Inkubationszeit einer Corona-Infektion im Schnitt etwa sechs Tage, die Ansteckungen mussten also vorher erfolgt sein.

Die wirkliche Ursache für die starken Anstiege dürfte eine zweite Entwicklung im Hintergrund gewesen sein: Mit der Rückkehr der ersten Kitas und Grundschulklassen aus dem Lockdown Mitte Februar wuchs auch die Testrate bei Kindern stark überdurchschnittlich. Zuerst die der PCR-Tests, nach Ostern dann die der Antigen-Schnelltests. Seitdem dürfen Schüler nur noch in den Präsenzunterricht, wenn sie zweimal pro Woche ein negatives Testergebnis vorlegen. Für keine andere Altersgruppe in Deutschland gibt es eine vergleichbare Testpflicht, keine wird seit Februar so intensiv auf Infektionen durchleuchtet. Das muss sich logischerweise auf die Corona-Funde auswirken.

Vier Zahlen, die das illustrieren: Zwischen Mitte Februar und Ende März stiegen die gemeldeten Neuinfektionen bei den Fünf- bis 14-Jährigen um 298 Prozent, in der Gesamtbevölkerung nur um 122 Prozent. Allerdings nahm auch die Pro-Kopf-Zahl der PCR-Tests bei Schülern zu: um 267 Prozent. In der ganzen Gesellschaft legte sie nur 28 Prozent zu.

Ein anderes Beispiel: Seit Anfang April stieg der Anteil positiver PCR-Testergebnisse bei Fünf- bis 14-Jährigen deutlich an. Innerhalb von vier Wochen verdoppelte er sich fast, lag mit 18 Prozent weit höher als in anderen Altersgruppen. Das wiederum hing mit einer anderen Entwicklung zusammen: Zeitgleich standen der breiten Bevölkerung erstmals Schnelltests zur Verfügung, und die Testpflicht an den Schulen begann. Wenn aber durch die Schnelltests viel mehr potenzielle Infektionen erkannt werden als zuvor, führt das dazu, dass die anschließend durchgeführten PCR-Tests deutlich zielgenauer eingesetzt werden - schon allein durch diesen Umstand steigt die Quote positiver Testungen.

Andere Länder entscheiden im Zweifel pro Kinder

Womöglich hat sich also gar nicht durch die britische Variante das Infektionsgeschehen zuungunsten der Kinder und Jugendlichen verschoben. Es könnte im Gegenteil so sein, dass aus Sorge vor diesem Szenario so viele zusätzliche Tests durchgeführt wurden, dass diese Altersgruppe intensiver überwacht ist als jede andere. Das würde bedeuten, dass von der angeblichen Corona-Sonderkonjunktur seit Februar wenig bis nichts übrig bliebe und die hohen Inzidenzen keineswegs belegen, dass Kitas und Schulen unsicherer geworden sind. Oder dass Schülerinnen und Schüler sich mittlerweile angeblich öfter anstecken als Erwachsene - deren Dunkelziffer noch so hoch wie eh und je ist.

Welche Sicht der Dinge stimmt, lässt sich noch nicht mit letzter Sicherheit sagen. Doch während andere Staaten im Zweifel für die Kinder entscheiden und diese jeden Tag zur Schule gehen lassen, nutzen viele Bundesländer nicht einmal die Öffnungsmöglichkeiten, die ihnen die Bundesnotbremse bietet. Das geänderte Infektionsschutzgesetz erlaubt den täglichen Präsenzunterricht in voller Klassenstärke bei einer Inzidenz von unter 100. Die Schulen in Mecklenburg-Vorpommern etwa waren trotz einer Inzidenz von um die 70 bis vergangenen Montag komplett geschlossen. Inzwischen dürfen wenigstens Grundschüler wieder täglich zur Schule, ab Klasse 7 gibt es Wechselunterricht.

Was wenn am Ende die Forscher um Göran Kauermann, Direktor des Instituts für Statistik an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, Recht behalten? Kauermanns Team sagt: Offene Schulen könnten sogar zur Pandemiebekämpfung beitragen. Weil nur in offenen Schulen für die Schüler zweimal die Woche Testpflicht besteht. Dadurch, so die Forscher, würden zwei bis viermal mehr Infektionen entdeckt, die sonst im Dunklen blieben. Die höheren Meldezahlen führten dazu, dass weniger Kinder und Jugendliche mit unerkannter Viruslast - ob zu Hause oder in der Schule eingefangen - herumlaufen. Was wiederum die Infektionsdynamik bremst. Die Politik sollte das bedenken.

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