Ukraine:Im Schatten von Saporischschja

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Blick auf das größte Atomkraftwerk der Ukraine vom gegenüberliegenden Ufer. Der Stausee ist fast leer, nachdem der Damm am 6. Juni gesprengt wurde. (Foto: Alina Smutko/REUTERS)

Besatzung, Beschuss, Wassermangel: Für die Menschen nahe dem gesprengten Staudamm ist die Lage schon dramatisch. Nun warnt der ukrainische Präsident vor der nächsten Katastrophe.

Von Sonja Zekri, Saporischija/Nikopol

Fast drei Wochen ist die Sprengung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine her, und noch immer treten neue bedrückende Folgen zutage. Gleichzeitig befürchtet der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij eine weitere Eskalation. Russland plane einen "Terrorakt mit dem Austreten von Radioaktivität" am Atomkraftwerk (AKW) Saporischschja, so Selenskij am Donnerstag in einer Videobotschaft. Die Ukraine habe Partner der G-7- und G-20-Länder informiert, ergänzte er am Freitag. Das Kraftwerk müsse umgehend befreit werden: "Alle wissen Bescheid und müssen handeln." Zuvor hatte der ukrainische Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow behauptet, dass die russischen Besatzer den Kühlteich des AKW vermint hätten.

Das Kraftwerk ist seit April 2022 abgeschaltet. Die Internationale Atomenergieenergiebehörde (IAEA), die einige wenige Beobachter im Kraftwerk hat, bestätigte diese Aussagen nicht, bestätigte aber, dass sie zuvor Minen auf dem Gelände gesehen habe. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Russland eine derartige Katastrophe auslöst. Ebenso wenig ausgeschlossen ist aber auch, dass Selenskij den Kachowka-Schock und die Atomdrohung zur Mobilisierung seiner westlichen Verbündeten nutzen möchte.

Während sich die Aufmerksamkeit der Welt vor allem auf die ukrainische Gegenoffensive weiter im Osten richtet, leiden die Menschen am Fuße des Kraftwerkes weit weniger beachtet unter Besatzung, Beschuss und der Angst vor einer Atomkatastrophe. Nirgends ist die Gefahr so bedrohlich wie für die beiden Städte zu beiden Seiten des einstigen Stausees. Das südliche Ufer mit der Stadt Enerhodar und dem Atomkraftwerk kontrollieren russische Truppen, das gegenüberliegende mit der Stadt Nikopol ukrainische. Bis zum Staudamm-Bruch am 6. Juni trennte sie die Wasserfläche des sechs Kilometer langen Stausees.

(Foto: SZ-Karte: Mainka/Mapcreator.io/OSM)

Im russisch besetzten Enerhodar sei die Stimmung "im Keller", sagt Bürgermeister Dmytro Orlow, der die Amtsgeschäfte aus dem 50 Kilometer entfernten Saporischschja führt. Zwar habe er selbst keine Informationen darüber, ob die russischen Truppen den Kühlteich tatsächlich vermint haben. Auch einen Mangel an Kühlwasser sehe er nicht. Der Kühlteich sei einige Quadratkilometer groß, 16 Meter tief und vom Stausee unabhängig. Er werde vom Stausee nur dann aufgefüllt, wenn Wasser verdunste. Für die nächsten Monate sehe er, Orlow, keine Gefahr: "Technisch gibt es kein Problem."

Beunruhigend bleibe, dass 1000 russische Soldaten das Kraftwerk als Festung betrachteten: "Sie benutzen die Kantinen als Kasernen, in den technischen Räumen haben sie Matratzen ausgelegt." Die Hälfte der ukrainischen Belegschaft sei geflohen, der Rest werde unter Druck gesetzt, russische Pässe anzunehmen und für die russische Agentur Rosatom zu arbeiten. "Anfangs haben sich die Russen als Befreier gegeben. Jetzt üben sie nur noch Druck aus." Derzeit versiegelten russische Einheiten alle leeren Wohnungen: "Es ist unklar, ob sie sie abreißen oder neu belegen wollen."

Wie ist die Situation nach der Sprengung des Damms?

Auf der nördlichen, ukrainisch kontrollierten Seite ist die Lage fast noch dramatischer, denn Nikopol hat seit Wochen kein Wasser. Drei Tage nach der Staudamm-Sprengung war der Pegel des Stausees so weit gesunken, dass das Wasser in der ganzen Stadt abgedreht wurde. Anders als Enerhodar, das über Grundwasserspeicher versorgt wird, hängt Nikopol vollständig ab von den Lieferungen, die Feuerwehr und Freiwillige aus dem ganzen Land bringen. Vor dem Gymnasium Nr. 15 wie vor anderen Schulen der Stadt warten Menschen in der Sommerhitze, schleppen Kanister in Kinderwagen weg - spürbar gereizt. "Man weiß nicht, ob man sich oben oder unten waschen soll, und dann wäscht man sich gar nicht, sondern nimmt das Wasser zum Kochen", schimpft ein Mann in der Schlange: "Man sagt, der Krieg ist ein Gleichmacher. Aber nichts macht die Menschen einander so gleich wie der Mangel an Wasser."

Bewohner von Nikopol stehen an einer Wasserausgabestelle an. (Foto: Alina Smutko/REUTERS)

100 000 Einwohner hatte Nikopol vor dem Krieg, die Hälfte lebt noch immer in der Stadt. Im Winter hatte Russland die Kraftwerke und Umspannungswerke bombardiert, um die Ukrainer durch Strommangel, Kälte und Dunkelheit zu zermürben. Der Wassermangel, womöglich der Ausbruch von Krankheiten, wenn nicht bald Abhilfe geschaffen wird, wirkt nun wie eine neue brutale Waffe.

Fast täglich wird Nikopol außerdem vom anderen Ufer beschossen, vom Kraftwerk aus. Zuvor habe immerhin der Stausee zwischen ihnen und dem Feind gelegen, sagen die Menschen in Nikopol. Aber nun könnten die russischen Soldaten im Winter über das wenige, dann vereiste Wasser angreifen. Die Stadtverwaltung hat erklärt, dass sie das Bett des Dnjepr wieder vertieft.

Militärisch war die Sprengung des Staudamms ein Schlag für die Ukraine. Für die Gegenoffensive hatten die Truppen flussabwärts über den Dnjepr übersetzen sollen, jetzt ist das geflutete Gelände zu weich für schwere Fahrzeuge. Ohnehin bleibt die Gegenoffensive hinter den womöglich übersteigerten Erwartungen zurück. Sollten die Gefechte näher rücken, würde die Gefahr für das Kraftwerk wieder steigen. Dass es die russischen Truppen kampflos räumen, halten viele nach der Staudamm-Sprengung für unwahrscheinlich.

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