In einem holzvertäfelten Saal agiert ein Philosoph auf der Bühne, neben ihm stehen Pult und Overheadprojektor. Mit Hunderten Studierenden diskutiert er moralische Dilemmata und Gerechtigkeitsfragen. So wurde Michael Sandel weltweit bekannt. Seine in Harvard gehaltenen Vorlesungen "Justice. What's the right thing to do?" erschienen 2009 als Buch, wurden im Fernsehen gezeigt und sind im Internet zu finden. Man könnte ihn für einen Fernsehprediger halten - das Magazin Newsweek kürte ihn zum "rock-star moralist".
Zum ersten Mal machte Michael Sandel 1982 mit einer Kritik an John Rawls' "Theorie der Gerechtigkeit" von sich reden, einem der wichtigsten philosophischen Werke der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt von Rawls' Gerechtigkeitsvorstellungen steht das Individuum.
Sandel warf damals ein, man müsse in solche Überlegungen immer auch die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften einbeziehen, denn sie konstituierten die individuelle Identität - von einem "ungebundenen Selbst" könne keine Rede sein. Der Kommunitarismus, die Orientierung an sozialen Tugenden und am Gemeinwohl, den Sandel neben anderen vertritt, wuchs zu einer prominenten Strömung heran, regte Diskussionen an und erregte Widerspruch.
Das neue Buch des politischen Philosophen knüpft an frühere Überlegungen an, nimmt seinen Ausgang jedoch in der Gegenwart. In "Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreißt" untersucht Sandel ( siehe das SZ-Interview mit ihm am 22. September) gesellschaftliche Fehlentwicklungen und die Ursachen der "populistischen Unzufriedenheit". Dabei macht er zunächst ein Bündel von Problemen aus: technokratische Politik, marktgetriebene Globalisierung, Ungleichheit, die Einteilung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer.
Die herrschenden Eliten hätten Bedingungen geschaffen, welche "die Würde der Arbeit zersetzt" und viele Menschen mit dem Gefühl zurückgelassen hätten, "nicht geachtet zu werden und machtlos zu sein". Die Globalisierung habe außerdem zur Folge, dass "nationale Identitäten und Loyalitäten" entwertet würden. (Hier wird deutlich, warum dem Kommunitarismus der Vorwurf anhängt, Nationalismus Vorschub zu leisten.)
In den Mittelpunkt stellt Sandel den meritokratischen Liberalismus, der zu einer Tyrannei der Leistung geronnen sei. In den einzelnen Kapiteln untersucht er Aspekte und Erscheinungsformen wie die Ethik des Erfolgs, den "Ausleseapparat" oder den Kredentialismus, also die wachsende Bedeutung von Abschlüssen am Arbeitsmarkt.
An Eliteunis sollte das Los entscheiden, nicht das Geld der Eltern
Wie tief verwurzelt der Gedanke ist, das Schicksal spiegele unsere Leistungen wider, verdeutlicht Sandel mit einem Blick in die Bibel. Im Zuge dessen kommt er auf die Prädestinationslehre zu sprechen und auf die Spannung zwischen Verdienst und Gnade: "In diesen Tagen sehen wir Erfolg in einer Weise, wie die Puritaner Erlösung betrachteten - nicht als etwas, das von Glück oder Gnade abhängig ist, sondern als etwas, das wir uns durch eigene Anstrengung und Mühe verdienen."
Den Beginn dieser Entwicklungen verortet Sandel in den Achtzigerjahren. Im Januar 1987 verkündete der amerikanische Präsident Ronald Reagan, man werde diejenigen nie im Stich lassen, die unverschuldet in eine Notlage geraten seien. "Aber lasst uns herausfinden", hieß es in der Regierungserklärung weiter, "wie viele aus der Abhängigkeit von Sozialleistungen befreit und zur Eigenständigkeit gebracht werden können." Reagan stand damit nicht alleine, und im Anschluss, so Sandel, hätten auch Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder auf Marktmechanismen gesetzt und den Finanzmarktkapitalismus befeuert.
Insbesondere die Rede von Chancengleichheit, Mobilität und Eigenverantwortung, die diese Politiker und ihre Nachfolger stets im Munde führten, ist Sandel ein Dorn im Auge. Er zählt, wie oft sie solche Phrasen von sich gegeben haben. Barack Obama etwa habe während seiner Präsidentschaft die Formulierung "You can make it, if you try" mehr als 140 Mal gebraucht.
Der Glaube an soziale Mobilität gehe jedoch an der Realität vorbei, das System sei in den vergangenen Jahrzehnten nicht durchlässiger geworden, vielmehr hätten sich Privilegien konsolidiert und verhärtet. In diesem Kontext kommt Sandel auf die Eliteuniversitäten zu sprechen, er kehrt also auch vor der eigenen Haustür. Zwei Drittel der Studierenden in Harvard und Stanford stammen aus dem oberen Fünftel der Einkommenshierarchie.
Doch selbst wenn alle tatsächlich die gleichen Chancen hätten, sei eine Meritokratie aus moralischen Gründen gar nicht anzustreben, führe sie doch zu Hochmut bei den Gewinnern und Unmut bei den Verlierern, schließlich fühlten letztere sich jetzt selbst für ihr Scheitern verantwortlich. Und er fragt: Warum sollte der Talentierte eine überdimensionierte Belohnung verdienen? Ist es tatsächlich unser eigenes Werk, wenn wir bestimmte Talente haben?
Als Kontrastprogramm schlägt Sandel beispielsweise vor, dass Eliteuniversitäten unter den grundsätzlich infrage kommenden Bewerbern eine Lotterie um die Studienplätze veranstalten. Ein "Gefühl für die Zufälligkeit des Lebens" könne demütig machen. Zudem belohne der Markt ohnehin nicht zwingend das, was für das Gemeinwohl am besten sei.
Sandel schwebt eine demokratische und kapitalistische Gesellschaft vor, die sich mehr ums Gemeinwohl kümmert und sich weniger am Leistungsprinzip orientiert. Manche Autorinnen und Autoren, die sich mit Populismus oder der Krise der Demokratie befassen, tendieren dazu, den Schlüssel zum Verständnis im eigenen Forschungsfeld zu finden.
Psychologen argumentieren mit Einstellungen der Wähler, Ökonomen verweisen auf die wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung; Sandel sieht zwar ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren am Werk, auch er landet im Kern aber bei seinen alten Themen Individualismus versus Gemeinwohl. Dabei kann er nur teilweise plausibel machen, weshalb ausgerechnet die Imperative der Leistungsgesellschaft der ausschlaggebende Faktor sein sollten.
Dennoch kann man bei Sandel viel lernen, wenn man denn mit seinem etwas lehrhaften Stil zurechtkommt. Er bereitet philosophische Überlegungen und Argumente zugänglich auf - ob man ihm nun überall folgen will oder nicht.
Isabell Trommer ist Politikwissenschaftlerin.