Evangelische Kirche in Sachsen:Abgekanzelt

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Dem Erbe der friedlichen Revolution verpflichtet: Die Nikolaikirche in Leipzig ist weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. (Foto: Jessy Asmus)

Friedliche Revolution und Johann Sebastian Bach: In Leipzig sollen aus Kostengründen zwei so berühmte wie unterschiedliche Kirchengemeinden zusammengelegt werden. Doch dagegen regt sich Widerstand.

Von Ulrike Nimz, Leipzig

Im Hof der Leipziger Nikolaikirche steht ein Brunnen, kreisrund wie ein Taufbecken, entworfen vom Londoner Architekten David Chipperfield. Im Sommer ist er randvoll, so voll, dass stetig Wasser über den Lausitzer Granit rinnt. Es ist ein leises, unaufhaltsames Überquellen, Symbol für den Freiheitsdrang der Menschen, die im Herbst 1989 in und vor der Kirche zusammenkamen, um zu demonstrieren, immer montags, bis ein System zusammenbrach, bis die DDR Geschichte war. Bernhard Stief ist Pfarrer der Gemeinde St. Nikolai, er kommt täglich an dem Brunnen vorbei. Geht es nach ihm, hat in Leipzig erneut ein Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht.

In der Stadt tobt ein Streit, der von außen kleinlich erscheinen mag, aber einiges verrät über strukturelle Nöte der Kirche im Allgemeinen und die Befindlichkeiten innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens im Speziellen.

Noch immer beten sie jeden Montag für Frieden

St. Nikolai, um 1165 im romanischen Stil erbaut, ist Leipzigs ältestes noch stehendes Gotteshaus, ein begehbares Denkmal. Nur 500 Meter entfernt, am anderen Ende der Innenstadt, erhebt sich die Thomaskirche, Heimat des weltberühmten Thomanerchors, Wirk- und Ruhestätte Johann Sebastian Bachs. Geht es nach der sächsischen Landeskirche, sollen St. Nikolai und St. Thomas bald ein sogenanntes Schwesternkirchverhältnis eingehen. Ein Zusammenschluss, bei dem beide formal eigenständig blieben, auf dem Papier jedoch hätte künftig St. Thomas die führende Rolle, würde unter anderem über den Stellenplan entscheiden. Die Nikolaikirche wäre dann so etwas wie eine Filiale und Pfarrer Bernhard Stief ein Filialleiter.

Sein Büro im Pfarramt ist bescheiden, ein kleiner Raum mit Kerze auf dem Tisch. Als im Wendeherbst Tausende um den Leipziger Innenstadtring zogen, war Bernhard Stief Bausoldat in Bitterfeld, schuftete mit anderen Wehrdienstverweigerern in einer Gerüstbaufirma im Chemiedreieck. Er hat kein Problem, für seine Überzeugungen einzutreten. Es gebe keinerlei Konkurrenz mit der Thomaskirche, sagt Pfarrer Stief, man sei sich sogar sehr einig. Beide Gemeinden hätten sich über Jahre ein unverwechselbares Profil aufgebaut, würden unterschiedliche Milieus ansprechen.

Während die Thomaskirche zuallererst das Erbe Bachs pflegt, schon Prinz Charles und Camilla empfing und zu Motetten Besucherzahlen hat wie andere Kirchen an Weihnachten, sieht die Nikolaikirche sich den Werten der friedlichen Revolution verpflichtet. Es gibt ein Sozialcafé, in dem Touristen auf Wohnungslose treffen, Migranten auf Kunsthistoriker. Bis heute beten sie hier jeden Montag für den Frieden in der Welt. Am 9. Oktober, wenige Monate vor dem russischen Angriffskrieg, hielt Vitali Klitschko in der Nikolaikirche eine viel beachtete Rede. Kiews Bürgermeister sprach vom Kampf für die Demokratie, der mindestens einen genauso langen Atem brauche wie zwölf Runden im Boxring. "Beide Gemeinden sind etwas Besonderes", sagt Bernhard Stief. "Warum sollen wir das aufgeben?"

"Was ist mit meiner Kirche los?", fragt sich Nikolaipfarrer Bernhard Stief. (Foto: Jessy Asmus)

Das Warum trägt einen komplizierten Namen: Kirchgemeindestrukturgesetz. Es regelt grob gesagt die Verschlankung der Verwaltungen angesichts schrumpfender Mitgliederzahlen. Diese sind vor allem auf dem Land ein Problem, zumal im mehrheitlich gottlosen Osten.

Die Aufforderung zum Zusammenschluss erreichte Leipzig im vergangenen Sommer, völlig überraschend, sagt Stief, mitten in den Ferien. Zeitpunkt und Ton des Schreibens hätten etwas Überrumpelndes gehabt. Die Vorstände beider Kirchen zoomten sich eiligst zusammen, aus Spanien, vom Bodensee, um den Widerspruch zu koordinieren. Sie fordern eine Ausnahmeregelung, verweisen auf wachsende Gemeinden, auf das überregionale Ansehen, das die Innenstadtkirchen genießen.

Wiederholt habe man Vertreter der Landeskirche nach Leipzig eingeladen, sagt Stief. Die Unsinnigkeit der Zusammenlegung ließe sich ja am besten vor Ort begreifen. Stattdessen sei man nach Dresden zitiert worden, wie Untergebene an den Hof. "Wir saßen uns im wahrscheinlich größten Raum, den sie finden konnten, mit viel Abstand gegenüber, kein runder Tisch. Da habe ich schon gedacht: Was ist mit meiner Kirche los? In welchem Laden arbeitest du?"

Man lege doch auch nicht Mercedes und BMW zusammen, sagt die Pfarrerin

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Eine Frage, die sich auch Britta Taddiken ein ums andere Mal gestellt hat. Die Pfarramtsleiterin der St.-Thomas-Gemeinde empfängt in einem Arbeitszimmer, an der Wand hängt ein Ölgemälde des heiligen Petrus. Ihre Maske setzt sie während des Gesprächs nicht ab.

Knapp ein Jahr lang hat Britta Taddiken nicht arbeiten können, sie kämpfte gegen den Krebs. Mitten in der Chemotherapie habe sie ein Schreiben der Landeskirche erreicht, in dem man das Streichen ihrer Pfarramtszulage von etwa 400 Euro monatlich ankündigte, so lange, bis die "Struktureinheit" zwischen Thomas- und Nikolaikirche zustande gekommen sei.

Auch Bernhard Stief hat ein solches Schreiben erhalten. Nach Willen der Landeskirche soll es künftig nur noch ein Pfarramt geben, und bis man sich geeinigt hat, gehen die beiden Widerspenstigen leer aus. Man habe nach Eingang des Widerspruchs offenbar auch finanziellen Druck aufbauen wollen, sagt Taddiken. "In Dresden wusste man um meinen Gesundheitszustand. Bis heute hat sich niemand bei mir entschuldigt."

"Wir sind hier ja nicht in Rom": Britta Taddiken, Pfarramtsleiterin der Thomaskirche. (Foto: Jessy Asmus)

Bevor Britta Taddiken nach Leipzig kam, war sie Pfarrerin in Meldorf, einer kleinen Gemeinde in Schleswig-Holstein. Sie machte Hausbesuche, traute die Menschen und trauerte mit ihnen. Zum Abschied bat sie statt Geschenken um Spenden für eine anständige Nummerierung der Kirchenbänke. Dass es immer öfter notwendig sein wird, Gemeinden zusammenzulegen, um wirtschaftlich überleben zu können, sei ihr klar, sagt Taddiken. Sowohl St. Thomas als auch St. Nikolai hätten in der Vergangenheit mit kleineren Leipziger Gemeinden fusioniert. "Aber man legt halt nicht Mercedes und BMW zusammen."

In beiden Kirchen fürchten sie, dass durch ein Schwesternkirchverhältnis der Verwaltungsaufwand steigen wird. Die Theologie komme im Alltagsgeschäft schon jetzt zu kurz zwischen Haushaltsplänen, Personalgesprächen, Bauberatungen. Dabei sind sie gerade in St. Thomas die Dinge gern etwas anders angegangen, liberaler als in der konservativ geprägten Landeskirche. Als Pegida immer montags "spazieren" ging, habe man sich vom ersten Tag an klar positioniert, sagt Taddiken, auch auf der Kanzel. Während die Landeskirche in einem Themenheft zur Lutherdekade Frauke Petry - damals noch Gesicht der AfD - über ihre Betgewohnheiten schreiben ließ.

2019 initiierte Britta Taddiken einen offenen Brief an die CDU-Landesverbände von Sachsen, Brandenburg und Thüringen, darin die Aufforderung, vor den Landtagswahlen eine Koalition mit der AfD glaubhaft auszuschließen. Der Vorstoß sorgte in der Landeskirche für Kritik. Die Wahrnehmung von Pfarrerinnen und Pfarrern als "medial präsente Politiker ohne Mandat" sei ein Problem, heißt es in einer internen Mail. Eine Kirchengemeinde müsse bemüht sein, nicht nur jene zu erreichen, die "ins gleiche Meinungsspektrum passen". Eine unmissverständliche Aufforderung zur Zurückhaltung. "Sie wollen disziplinieren", sagt Britta Taddiken. "Aber wir sind hier ja nicht in Rom."

Man könne den Unmut verstehen, heißt es im Landeskirchenamt

Im Oktober nahm Sachsens Landesbischof Tobias Bilz am Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche teil, predigte über das Wesen des Streits und die Folgen des "zugespitzten Wortes". Ein Versuch des Ausgleichs, doch inzwischen liegt der Fall beim kirchlichen Verwaltungsgericht, die Fronten scheinen verhärtet. Fragen beantwortet der Bischof nicht selbst, sondern ausschließlich die Pressestelle des Kirchenamtes.

Man könne den Unmut in Leipzig ja verstehen, sagt eine Sprecherin. Kommunikativ sei zuletzt nicht alles optimal gelaufen, auch auf Seite der Landeskirche. In Konfliktfragen könne das regelmäßige Gespräch sicher mehr ausrichten als das Hin- und Herschicken von Schreiben. Der Umstand, dass der Streit so öffentlich ausgetragen werde, sei jedoch schmerzlich. Zumal es ausschließlich um Strukturfragen gehe, nicht um theologische Prägungen.

"Wir sehen und wertschätzen, was in den großstädtischen Gemeinden geleistet wird. Aber dass die Landeskirche in Zeiten schwindender Mitgliederzahlen auch unbequeme Entscheidungen treffen muss, das gehört zu einem verantwortlichen Leitungshandeln dazu", heißt es aus dem Kirchenamt. Eine schnelle, einvernehmliche Lösung im Kirchenstreit - sie bleibt wohl vorerst ein frommer Wunsch.

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