Im vergangenen Jahr sind 280 000 Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Zum Stichtag 31.12.2021 gehörten in Deutschland erstmals weniger als 20 Millionen Menschen, nämlich nur noch 19 725 000, einer der 20 evangelischen Gliedkirchen an. Das sind rund 2,5 Prozent weniger als im Vorjahr, teilte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bei der Vorstellung ihrer Mitgliederstatistik am Mittwoch mit.
Die zweite Ursache für den starken Rückgang waren neben der hohen Zahl der Austritte die Sterbefälle (360 000), die im Corona-Jahr erhöht waren. Die Zahl der evangelischen Taufen habe sich mit 115 000 gegenüber dem ersten Lockdown-Jahr 2020 zwar deutlich erhöht, habe aber längst nicht das Niveau von vor der Corona-Krise erreicht. Eingetreten sind rund 18 000 Menschen.
Das Jahr 2020 lässt sich aufgrund der Corona-Pandemie nicht mit anderen Jahren vergleichen - Behörden waren durch Lockdowns lange geschlossen, Austritte schwieriger und bei vielen Menschen nicht Priorität - aber bereits 2019 lagen die Zahlen auf hohem Niveau: Damals waren etwa 270 000 Menschen aus der evangelischen und 272 771 aus der katholischen Kirche ausgetreten.
Katholische Kirche veröffentlicht ihre Zahlen später
Wie viele Menschen im Jahr 2021 aus der katholischen Kirche ausgetreten sind, ist noch nicht bekannt. Die katholische Kirche veröffentlicht ihre Zahlen erst Ende Juni. Bislang hatten beide großen Kirchen ihre Austrittszahlen zur gleichen Zeit gemeinsam im Frühsommer bekannt gegeben, nun prescht die evangelische Kirche vor, die Zahlen sind teilweise noch vorläufig. "Wir als Bischofskonferenz geben seit 30 Jahren die finalen Zahlen immer im Sommer heraus, das werden wir beibehalten", sagte Matthias Kopp, Sprecher der deutschen Bischofskonferenz. Die katholischen Bischöfe haben sich derzeit zur Frühjahrsvollversammlung im fränkischen Vierzehnheiligen versammelt. Für die katholische Kirche war 2021 ein besonders schweres Jahr, das unter anderem von der Vertrauenskrise im Erzbistum Köln um ein zunächst zurückgehaltenes Missbrauchsgutachten geprägt wurde.
Nach Missbrauchsgutachten:Bischöfe beraten über die Zukunft der katholischen Kirche
Die Beschlüsse des "synodalen Weges" verlangt den Kirchenfürsten auf ihrer Frühjahrsvollversammlung die Umsetzung großer Reformschritte ab. Die wollen aber jetzt in "erster Diskussion" lediglich prüfen, was "realistisch" umsetzbar sei.
"Es ist davon auszugehen, dass Skandale zur Austrittsspitze 2019 beigetragen haben, insbesondere bei den vormals Katholischen", sagt die Soziologin Petra-Angela Ahrens, die am Sozialwissenschaftlichen Institut (SI) der EKD seit 2018 die Gründe für Kirchenaustritte erforscht. Das SI hat für eine bundesweite repräsentative Studie sowohl ehemalige evangelische als auch katholische Kirchenmitglieder befragt. Unter den konkreten Anlässen stehen nach Angaben der Forscher die kirchlichen Skandale zur sexualisierten Gewalt an Kindern und die Verschwendung finanzieller Mittel an vorderster Stelle. Bei den ehemaligen Katholiken zähle auch die Ablehnung von Homosexuellen zu den Austrittsgründen.
Bedeutungsverlust des religiösen Selbstverständnisses
Insgesamt konstatieren die Forscher, dass die Ex-Katholiken zur Zeit des Kirchenaustritts eine höhere Kirchenbindung vorgewiesen hätten als die Protestanten und dementsprechend eine stärkere "Aufgeregtheit über diese Skandale" an den Tag legten. Bei den Ex-Protestanten sei diese Aufgeregtheit kaum zu erkennen, vielmehr dienten die Skandale ohnehin bereits Kirchenfernen dazu, die endgültige Austrittsentscheidung zu untermauern.
Generell nennt aber - bei Protestanten wie bei Katholiken - nur eine Minderheit der Befragten tatsächlich einen konkreten Skandal als Anlass für den Austritt (24 Prozent bei den Ex-Protestanten, 37 bei den Ex-Katholiken). In erster Linie vollziehe sich der Austritt als Prozess, der häufig schon mit einer fehlenden religiösen Sozialisation beginne, so Soziologin Ahrens: "Eine empfundene 'persönliche Irrelevanz' von Religion und Kirche kristallisiert sich als wichtiger Faktor heraus." Gerade den ehemals Evangelischen gehe es beim Austritt auch darum, die Kirchensteuer zu sparen - 71 Prozent machten in der Befragung diese Angabe.
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Als besonders wichtiger Einflussfaktor erweist sich der Studie zufolge die "primäre Sozialisation", also die religiöse Erziehung von Kindheit an zum Beispiel im Elternhaus. Bei den Protestanten sei dieser Bedeutungsverlust eines religiösen Selbstverständnisses schleichend über die Generationen hinweg sichtbar. Bei den Katholiken hingegen scheine sich "ein regelrechter Bruch" vollzogen zu haben, so die Studie: Trotz religiöser Erziehung hätten sie den Entschluss zum Kirchenaustritt umgesetzt und definierten sich zum Zeitpunkt der Befragung als so unreligiös wie die befragten Ex-Protestanten.
Besorgt äußerte sich die EKD-Ratsvorsitzende, Präses Annette Kurschus, zu den Austrittszahlen: Zwar hänge die Ausstrahlkraft einer Kirche nicht allein an der Zahl der Mitglieder. "Trotzdem werden wir sinkende Mitgliederzahlen nicht als gottgegeben hinnehmen." Unter anderem wolle man mit Taufaktionen gezielt Familien ansprechen, die ihre Kinder wegen Corona bislang nicht hätten taufen lassen. "Bei der Taufe eines Kindes erfahren wir unmittelbar, wie die Kraft des Evangeliums Menschen berührt und stärkt", so Kurschus. "Der Segen begleitet die Getauften ein Leben lang. Diese Zusage ist gerade in unsicheren Zeiten verheißungsvoll und heilsam zugleich."