S21-Schlichter:Vor Geißler waren alle gleich

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Heiner Geißler war Schlichter im Streit um das milliardenschwere Bauprojekt Stuttgart 21. (Foto: picture alliance / dpa)

Mit 80 Jahren wagte er noch einmal das scheinbar Unmögliche: Er schlichtete im Streit um das Milliardenprojekt Stuttart 21. Seine Sitzungsführung war unkonventionell - und unterhaltsam.

Von Roman Deininger

Man müsste mal nachzählen, welches Wort in der Schlichtung zu Stuttgart 21 am häufigsten benutzt wurde. "Bahnbetriebssimulation" wäre sicher vorn mit dabei, auch "Wirtschaftlichkeitsrechnung" und "Brandschutzkonzept" hätten wohl gute Chancen auf einen Medaillenrang. Der Favorit auf Gold wäre aber zweifellos: "nichtwahr". Gut, "nicht wahr" besteht streng genommen aus zwei Worten, aber der Schlichter Heiner Geißler verschmolz sie in seinem Mund virtuos zu einem.

Auf 65 Stunden summierten sich im Herbst 2010 die Sitzungen der Schlichtung, und die "Nichtwahrs" des Moderators Geißler gaben den Takt vor. "Nichtwahr" konnte ein Lob einleiten, aber auch einen Rüffel. Wenn Geißler einen Satz mit "nichtwahr" anfing, dann erstarrten die Teilnehmer in furchtsamer Erwartung. Das Schöne war: Man wusste nie, wen es nun treffen würde, S21-Befürworter oder S21-Gegner, den großen Bahnvorstand oder den kleinen Stadtrat. Vor Heiner Geißler waren alle gleich.

Er wollte das Spielfeld eben gestalten, eben für alle, und er tat das mit verschmitzter, nötigenfalls knorriger Autorität. Als Bahnchef Rüdiger Grube zur letzten Sitzung im Saal erschien, hätten ihn andere sicher unterwürfig begrüßt. Geißler wies Grube erst mal auf den arg mittelmäßigen Kaffee im ICE-Bistro hin. Und auf den schlechten Service bei der Telefon-Hotline der Bahn. Und auf diese seltsamen Fahrkartenautomaten, bei denen man ein Ticket nach Köln anfordere und eines nach Pforzheim bekomme.

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Schlichtung vor laufenden Kameras

Es gibt einige Bilder, die bleiben werden von Heiner Geißler, der am Dienstag verstorben ist. Generalsekretär und Scharfmacher, Sozialpolitiker und Reformer. Geißler hat diesem Reigen im hohen Alter, am Ende eines langen politischen Weges, noch ein weiteres Bild hinzugefügt: das des Schlichters.

Geißler hat in der Bauindustrie geschlichtet und im Druckgewerbe, aber all das fand weitgehend hinter den Kulissen statt. In Stuttgart schlichtete Heiner Geißler im Rampenlicht. Live im Fernsehen. Phoenix und der SWR übertrugen bis zu acht Stunden am Tag, andere Sender schalteten sich zu. Macht es Sinn, den Stuttgarter Hauptbahnhof eine Etage tiefer zu legen? In neun Sitzungen durften Freunde und Gegner des Projekts ihre Argumente ausbreiten. Man sprach von einem großen Demokratieexperiment, so groß, dass Geißler sich einmal zu einer Klarstellung genötigt fühlte: "Was wir hier machen, richtet sich nicht gegen die parlamentarische Demokratie." Als die Kamera aus war, fügte er lächelnd hinzu: "Aber wir haben hier natürlich schon mehr Zuschauer."

Die Bühne der Schlichtung war ein Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses, holzgetäfelte Wände, riesige Panoramafenster, Laptops und Leinwände, ein großes Sitzoval, in der Mitte der Schlichter. Heiner Geißler wusste sich natürlich in Szene zu setzen; für seine erste Pressekonferenz als Schlichter hatte er nicht das Rathaus gewählt oder den Landtag. Geißler sprach: am Bahnhof. Aber seine bisweilen komödiantische Sitzungsleitung im Rathaussaal war nicht Selbstzweck - sie ordnete das Geschehen, und sie öffnete es. Geißler zwang die Experten zu Verständlichkeit, er sprach für den normalen Zuhörer ohne Ingenieurs- oder Geologiestudium: "Nicht wahr, das versteht außer den Fachleuten kein Mensch."

Wenn irgendjemand seltsame Folien an die Wand warf, auf denen viele bunte Linien ein Knäuel bildeten, dann konnte man sich darauf verlassen, dass Geißler irgendwann sagte: "Ich unterbreche Sie ungern. Aber was bedeutet die gelbe Linie?" Wenn sich jemand in ellenlangen Nebensätzen verlor, empfahl Geißler eindringlich, bei der Satzkonstruktion Subjekt, Prädikat und Objekt gezielt einzusetzen. Wenn jemand minutenlang über "Bremskurven" referierte, sagte Geißler nur: "Können Sie das jetzt noch mal in verständlichem Deutsch sagen?" Die Sehnsucht nach verständlichem Deutsch hielt ihn freilich nicht davon ab, hin und wieder mal ein lateinisches Zitat in den Raum zu werfen - und die Sekunden zu genießen, die es dort unübersetzt stand.

Geißler saß immer ohne Krawatte im Saal, während sich viele andere Schlichtungs-Teilnehmer die Luft abschnürten mit ihren Bindern. Er war fast unerhört lässig für einen 80-Jährigen und dennoch zu gesunder Grobheit fähig. Wenn jemand seine Fragen nicht genau beantwortete, rief er: "Entschuldigung, wir tun das, was ich sage." Wenn der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer kritische Anmerkungen zu seinem Moderationsstil machen wollte, sagte Geißler einfach: "Nein." Und Palmer war wirklich still.

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"Politik ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst"

Am Ende forderte Geißler sieben Nachbesserungen bei Stuttgart 21, unter anderem einen "Stresstest" zur Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs. Das Ergebnis dieses Stresstests blieb umstritten, also schlug Geißler im Sommer 2011 einen Kompromiss vor: einen Kombi-Bahnhof, vier Gleise unter der Erde und ein Dutzend darüber. So richtig ernst nahm das niemand. Man wird der Schlichtung und dem Schlichter aber nicht gerecht mit dem Blick aufs nackte Ergebnis.

"Politik ist keine Wissenschaft", hat Geißler in einer Sitzung gesagt, "sondern eine Kunst". Mit Wissenschaft war der Konflikt um Stuttgart 21 nicht zu lösen. Mit Kunst hat Heiner Geißler ihn wenigstens befriedet.

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