Krieg in der Ukraine:Erbitterter Widerstand

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Ein Mitglied der zivilen Verteidigung der Ukraine patroulliert am Sonntag auf den Straßen von Kiew, von denen sich die restliche Bevölkerung fernhält. (Foto: Efrem Lukatsky/AP)

Den russischen Vormarsch auf die zweitgrößte Stadt Charkiw konnten ukrainische Truppen offenbar stoppen. Gleichzeitig stockt Moskau die Truppenstärke über das Wochenende auf. Landesweit greifen auch Bürger zur Waffe.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Erst massives Bombardement und Artilleriebeschuss in der Nacht, dann der Versuch einer Bodenoffensive. Russische Soldaten sind am Samstag und Sonntag in die zweitgrößte ukrainische Stadt vorgedrungen, Charkiw. Viele der etwa 1,5 Millionen Einwohner suchten in den U-Bahn-Stationen Sicherheit, während es in der etwa 25 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernten Stadt zu Kämpfen und Schusswechseln kam.

Auf Videos aus der Stadt war zu sehen, wie russische Einheiten mit gepanzerten Fahrzeugen und Lastwagen durch menschenleere Straßen fahren, aber auch wie ukrainische Soldaten mit Panzerabwehrraketen und Sturmgewehren den Angreifern Widerstand leisten. Verlassene Militärfahrzeuge und zerstörte Raketenwerfer der russischen Armee sind darauf zu erkennen, aber auch Schießereien in Wohnvierteln und stark beschädigte Häuser. Eine Verteilerstation einer Gaspipeline soll bei den Kämpfen in Brand geschossen worden sein.

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Der Gouverneur der Region, Oleh Sinegubow, sagte, die russischen Einheiten seien mit leichten Militärfahrzeugen in die Stadt vorgedrungen, auch in das Stadtzentrum. Ukrainische Soldaten versuchten, die russischen Truppen zurückzudrängen. Zivilisten wurden aufgefordert, nicht nach draußen zu gehen. Am Nachmittag meldete das ukrainische Militär, die Angreifer seien zurückgeschlagen worden. Der größere Teil der russischen Einheiten hat die Stadt offenbar umgangen und versucht, weiter ins Landesinnere voranzukommen.

Der Großteil der 150 000 russischen Soldaten ist nun im Einsatz

Inzwischen ist nach Einschätzung westlicher Geheimdienste der überwiegende Teil der mehr als 150 000 russischen Soldaten, die Präsident Wladimir Putin an die Grenze zur Ukraine verlegte, im Einsatz. Damit weitete Moskau die Offensive über das Wochenende massiv aus. Zu Beginn der Attacken hatte sich deutlich weniger als die Hälfte des russischen Kontingents an den Kampfhandlungen beteiligt.

Ein vorrangiges Ziel der Offensive ist es offenbar, mit einem schnellen Vorstoß von der Krim aus Richtung Norden und entlang der Küste die in der Ostukraine stehenden Einheiten des ukrainischen Militärs einzukesseln. Etwa die Hälfte der ukrainischen Bodentruppen ist entlang der mehr als 400 Kilometer langen Kontaktlinie stationiert, die sie von den prorussischen Separatisten in den selbst ausgerufenen Volksrepubliken Donezk und Luhansk trennt. Entlang der Kontaktlinie kommt es seit Tagen zu schweren Kämpfen, was die ukrainischen Einheiten dort bindet.

Zugleich stoßen russische Truppen über Charkiw nach Süden vor. Zusammen mit den von der Krim vorrückenden Einheiten könnten sie die ukrainischen Verbände abschneiden. Ein Sprecher des russischen Militärs gab an, russische Truppen würden die Hafenstädte Cherson am Schwarzen Meer und Berdjansk am Asowschen Meer blockieren.

Der russische Vormarsch auf Kiew konnte bislang abgewehrt werden

Auch die Hauptstadt Kiew wurde über das Wochenende erneut Ziel von Raketenangriffen, die teilweise auch Wohngebiete trafen. Ein Hochhaus wurde schwer beschädigt durch den Einschlag einer Rakete. Am Sonntagnachmittag waren im Stadtgebiet immer wieder schwere Explosionen zu hören, ebenso am internationalen Flughafen Borispol. Auch hier meldeten die Behörden, die Versuche russischer Soldaten, die Stadt zu infiltrieren, seien abgewehrt worden.

Russische Truppen hatten versucht, zwei Flugplätze in der Umgebung von Kiew einzunehmen, wurden dabei von ukrainischen Einheiten offenbar in schwere Kämpfe verwickelt und erlitten Verluste. Angeblich wurden dabei zwei Militärtransporter vom Typ Iljuschin Il-76 abgeschossen. Die Bürgermeisterin der Stadt Wassylkiw südwestlich von Kiew teilt mit, russische Raketen hätten die Stadt getroffen und einen Ölterminal in Brand gesteckt.

Ziel der Vorstöße auf die Hautstadt, die Panzerverbände auch entlang der Ufer des Dnepr fortsetzten, ist es vermutlich, Regierungsinstitutionen unter Kontrolle zu bringen und die Regierung von Präsident Wolodimir Selenskij zu stürzen sowie dem Militär die Möglichkeit einer koordinierten Verteidigung zu nehmen.

Wie lange die Armee und die Bürger den Widerstand aufrechterhalten können, ist unklar

In vielen Städten der Ukraine bewaffneten sich Bürger, um ihr Land zu verteidigen. Andere fertigten Molotowcocktails an. Insgesamt treffen die russischen Truppen auf anhaltenden und entschiedenen Widerstand. Zugleich ist nicht klar, wie lange die Armee und die Bürger diesen aufrechterhalten können. Die Streitkräfte geraten in logistische Schwierigkeiten, auch weil nach wie vor viele Menschen versuchen, vor den Kämpfen zu fliehen, die zunehmend Städte und kleinere Orte in der Ukraine in Mitleidenschaft ziehen.

Nach Angaben der Regierung in Kiew sind bis Sonntagabend mehr als 220 Menschen durch russische Angriffe getötet und mehr als 1400 verletzt worden. Die russischen Verluste gab Kiew mit 4500 Soldaten an, was sich unabhängig aber nicht prüfen lässt. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR haben sich 368 000 Menschen aus der Ukraine in Nachbarländer gerettet. Ihre Zahl steige aber ständig und schnell weiter.

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