Russland:"Dem Zuchthäusler keine Möglichkeit, allein zu sein"

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Mehr noch als der Hochsicherheitszaun hält wohl die endlose Weite um das Straflager beim Dorf Schamchal die Gefangenen in ihrer Verbannung fest. (Foto: Musa Salgereyev/imago images/ITAR-TASS)

In Russland werden Verurteilte wie Nawalny in Straflager geschickt, die oft weit entfernt von der Zivilisation liegen. Die Gemeinschaftszellen haben Tradition, und erschweren die Rückkehr in die Freiheit.

Von Frank Nienhuysen, München

Hoch hinauf ragen die Bäume in den blauen Spätsommerhimmel, sanft und saftig gelb breitet sich ein Getreidefeld aus. Russlands Natur zeigt sich prächtig auf Iwan Schischkins Gemälde "Roggen", das als Titelbild Lust machen soll auf eine Reise, die noch weiter führt als bis nach Sibirien. Anton Tschechow beschreibt in seinem Buch "Die Insel Sachalin" den fernen russischen Verbannungsort im Pazifischen Ozean, wo der Literat 1890 mehrere Monate als Beobachter verbrachte. Tschechow schreibt darin von kasernenartigen Holzbaracken, Doppelreihen von Pritschen, Gemeinschaftszellen, die "dem Zuchthäusler keine Möglichkeit geben, allein zu sein, was er zumindest braucht, um zu beten, nachzudenken und zu jener Selbstverständigung zu gelangen, die alle Anhänger der Besserungstheorie für unerlässlich halten".

Der Schriftsteller Fjodor Dostojewskij, der im 19. Jahrhundert vier Jahre lang Häftling in einer sibirischen Strafkolonie war, macht es in "Aufzeichnungen aus dem Totenhaus" noch deutlicher: "Mit der Zeit begriff ich, dass es außer dem Verlust der Freiheit, außer der Zwangsarbeit im Leben des Sträflings noch eine Qual gibt, die fast größer ist als alle anderen: das ist das erzwungene allgemeine Zusammenleben."

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Die Beschreibung von Strafkolonien hat in Russland eine Tradition, die bis in die Zarenzeit zurückreicht. Später schreckte Alexander Solschenizyns Werk "Archipel Gulag" über das sowjetische Lagersystem die Welt auf. Im jüngeren Russland erzählten der Oligarch Michail Chodorkowskij, der an die chinesische Grenze verlegt wurde, und die Pussy Riot-Sängerin Nadeschda Tolokonnikowa von ihren Erlebnissen im Straflager, die sie zeitweilig in den Hungerstreik trieben.

Strafkolonie, der Begriff hat auch jetzt Konjunktur. Der Oppositionelle Alexej Nawalny muss täglich damit rechnen, für zweieinhalb Jahre in ein solches Lager gebracht zu werden. Oder ist er schon dort? Am Donnerstag wurde er aus dem Untersuchungsgefängnis verlegt. Wohin, war zunächst nicht bekannt. Der Direktor der Strafvollzugsbehörde, Alexander Kalaschnikow, versicherte am Freitag, dass Nawalny jedenfalls keinerlei Bedrohungen zu befürchten habe. In Belarus werden nach der monatelangen Protestwelle derzeit ebenfalls viele Urteile gefällt, in denen es heißt: mehrere Monate oder Jahre kolonii - Strafkolonie.

Insassen nähen oft Uniformen für die Polizei

Strafkolonie klingt nach alten Zeiten. Dostojewskij hatte winters immerhin Spaß am Schneeschaufeln, ansonsten litt er unter der Arbeit in sengender Sommerhitze, bei der ihn schon eine "armselige verkümmerte Feldblume" in den Bann zog. Muss Nawalny, müssen andere Verurteilte also nach Sibirien? Müssen sie nicht unbedingt. Abgelegen aber sind die Straflager schon. Nawalny wurde zu einem Straflager des obschtschij, des "allgemeinen Regimes", verurteilt und wird innerhalb der russischen Zentralregion verlegt, in einem Radius von 500 Kilometern vom Moskauer Wohnort entfernt.

Die russische Strafvollzug-Expertin Olga Romanowa von der Organisation "Russland hinter Gittern", sagt der SZ, dass Kolonien in der Regel in abgeschiedenen Regionen liegen: "Ein- bis zweistöckige alte Gebäude, Zwei-Etagen-Betten, keine Duschen, keine eigene Kleidung, kein Geld, kein Internet, erlaubt sind 20 Kilogramm Pakete in drei Monaten, vier mehrtägige und sechs mehrstündige Besuche pro Jahr." Oft würden die Insassen nähen, etwa Uniformen für die Polizei, Kleidung für Hausmeister.

Gefangen hinter Glas während einer Anhörung vor dem Bezirksgericht Babuschkinskij: Alexej Nawalny soll in eine Strafkolonie verlegt werden. Oder ist er schon dort? (Foto: Uncredited/dpa)

Es gibt in Russland leichtere Straflager und solche des "strengen" und des "besonderen Regimes", aber Olga Romanowa sagt, so groß würden sie sich nicht unterscheiden, "vor allem durch die Zahl der Besuche, und ob man Geld zur Verfügung haben darf".

Russische Lager sind gefürchtet. Wenig Schlaf, Arbeit von morgens bis spät am Abend, launenhafte Wärter, keine Rückzugsmöglichkeit für die Häftlinge in den Gemeinschaftsunterkünften, die Hierarchien herausbilden und dadurch oft Spannungen erzeugen. "Resozialisierung gibt es nur auf dem Papier", sagt Romanowa. "Die meisten Insassen werden rückfällig."

Die Wärter sind bei Häftlingen gefürchtet

Immer wieder gibt es Berichte über Gewalt, sogar Folter. Erst am Dienstag veröffentlichte die Zeitung Nowaja Gaseta Videos aus einem Lager in Jaroslawl, auf denen zu sehen ist, wie Wärter vor einigen Jahren auf Männer einprügelten. Im sibirischen Gebiet von Irkutsk wurden kürzlich nach russischen Medienberichten zwei Gefangene von Aufsehern gefoltert und schwer verletzt. Der Leiter der Anstalt sei entlassen worden. Fürchterlich seien auch die Zustände in Belarus, sagt Romanowa. Noch schrecklicher gehe es in den einstigen Sowjetrepubliken in Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan zu: "Das ist praktisch mittelalterlich", sagt sie.

In Russland ist die Zahl der Häftlinge in den vergangenen 20 Jahren um die Hälfte auf derzeit etwa 500 000 zurückgegangen. Olga Romanowa sagt, dies liege daran, dass Delikte wie leichter Diebstahl oder häusliche Gewalt entkriminalisiert worden seien. "Das alles betrifft einen großen Teil der Gesellschaft", sagt sie. Manches Straflager wird deshalb geschlossen, die Zahl der Gefangenen pro Landesbevölkerung ist nach Angaben des Europarats trotzdem die höchste in Europa, geringer jedoch als die in den USA.

Igor Kaljapin, Mitglied des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten, beklagte einmal in einem Interview mit znak.com, dass die Einrichtungen noch ein Erbe des sowjetischen Systems seien und diese sich dort befänden, "wo sich die Füchse Gute Nacht sagen". Immer wieder gab es Reformpläne, die neuesten von Januar sehen jedoch eher eine Digitalisierungsoffensive in den Kolonien vor, moderne Dokumentenerfassung, Gesichtserkennung, Methoden zur Blockade von Mobilfunkverbindungen, wie der Kommersant berichtete.

Das traurigste Problem sei aber, sagte Kaljapin in dem Interview, dass es noch nicht gelungen sei, "die Subkultur unter den Wärtern zu reformieren". Deren Arbeit werde in der Ferne zu wenig beaufsichtigt, sagte Kaljapin. Es bräuchte mehr gesellschaftliche Kontrolle. Aber es sei schwierig, das Personal auszutauschen: "Niemand träumt davon, in einen Wald zu fahren und 200 Kilometer vom Gebietszentrum entfernt Dienst zu leisten."

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