Theo kann noch nicht wählen. Er ist gerade mal neun Jahre alt. Trotzdem will er zum Marktplatz im brandenburgischen Finsterwalde, als Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang Juli auftritt. Gemeinsam mit seiner Mutter, Nicole Strebe, sitzt er vor der Bühne. Als Merkel schließlich auftaucht, läuft er zu ihr. Die Bundeskanzlerin schüttelt ihm die Hand.
Plötzlich hören er und Nicole Strebe Pfiffe und Buhrufe. Hinter ihnen haben sich hundert Gegendemonstranten versammelt. "Hau ab" oder "Merkel muss weg", brüllen sie. Zwei Männer zeigen den Hitlergruß. Theo bekommt schreckliche Angst. Er will weg. Doch dafür müssen Mutter und Sohn direkt durch den Mob hindurchlaufen. Der Schock sitzt tief bei dem Jungen. In der Nacht macht er zum ersten Mal seit Jahren ins Bett.
Aber auch die 38-jährige Nicole Strebe ist getroffen: "Ich habe mich an diesem Tag für meine Heimat geschämt." Dabei ist sie eine derjenigen, die nach Jahren im Westen bewusst in ihre ostdeutsche Heimat zurückgekehrt sind.
Torgau, Bitterfeld, Finsterwalde - bei ihrer Wahlkampftour durch den Osten wurde die Kanzlerin von wütenden und pöbelnden Gegendemonstranten begrüßt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnete den Osten gar als "Merkels dunkles Deutschland".
Der Neunanfang gelang nicht jedem
Woher kommt dieser Hass? Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig: Die für viele schmerzhaften Umbrüche zur Wendezeit wurden nie aufgearbeitet. Immer noch fühlen sich viele Menschen in Ostdeutschland vom Staat schlechter behandelt. Aber auch die vielen Ostdeutschen, die weggezogen sind, spielen eine Rolle. Hunderttausende verließen in den Neunzigern ihre Heimat. Allein zwischen 1989 und 1991 gingen mehr als 250 000. In den Jahren um die Jahrtausendwende waren es immerhin noch 150 000. Bis 2013 verlor der Osten fast ein Viertel seiner ursprünglichen Bevölkerung. Zurück blieben Menschen mit zum Teil gebrochenen Biografien. Der Neuanfang gelang nicht jedem.
Das Finsterwalde der Nachwendezeit ist in Nicole Strebes Erinnerung eine graue und trostlose Stadt. "Die Betriebe waren runtergewirtschaftet", sagt ihr Vater Gerhard Schober. Die Tisch- und die Feintuchfabrik mussten schließen, das Kaufhaus, kleine Läden. "Viele Leute haben sich hängenlassen. Keine Arbeit, stattdessen erst Arbeitslosengeld und später Hartz IV. Die hatten keinen Bock mehr." Nach der Wende macht sich der gelernte Schlosser selbständig. Für einen Schrottpreis kauft er die Maschinen früherer Betriebe auf. Mutter Christina Schober schlägt sich mit Mini-Jobs durch. Sie lebt seit 1992 getrennt von ihrem Mann. Die gemeinsame Tochter wächst bei ihr auf.
Als Jugendliche hängt Nicole Strebe mit ihren Freunden im Stadtpark herum. Sie rauchen, quatschen stundenlang. Es geht um Jungs, um Klamotten. Die Wochenenden folgen immer demselben Rhythmus: Samstags geht es in die Disco im Nachbardorf. Sie trifft sich manchmal schon nachmittags mit einer Freundin zu Hause. Da sitzen sie dann mit Gesichtsmaske und überlegen, was sie anziehen sollen. Nachts tanzen sie zur Musik der "Ärzte" und der "Toten Hosen". Sonntags gibt es bei Strebes Oma Katerfrühstück und abends geht es ins Kino. "Es war eine schöne Zeit", sagt Nicole Strebe.
Bis sich Ende der neunziger Jahre die Abschiede häufen. Eine Freundin geht bereits nach der zehnten Klasse in den Westen, um Krankenschwester zu werden. 1999 verlässt auch Nicole Strebe ihre Heimat und geht nach Berlin. Sie studiert soziale Arbeit, will die dunklen Seiten der Großstadt sehen, mit Drogenabhängigen arbeiten. Doch was die Studentin dann tatsächlich am Zoologischen Garten zu sehen bekommt, schockiert sie.
Auch sonst ist die Stadt für die junge Frau eine Enttäuschung: Nachts traut sie sich kaum allein auf die Straßen aus Angst vor Überfällen. Und dann die weiten Wege. Mit ihrem damaligen Freund wohnt sie abgeschieden in Spandau. Auf Partys geht Strebe gar nicht mehr. Sie und ihr Freund treffen sich vor allem mit anderen Paaren zum Abendessen. Am Wochenende pflegt sie alte Menschen. 2002 dann die Hochzeit, ein Jahr danach kommt Felix zur Welt, später Theo. Die Familie zieht um, raus nach Hennigsdorf, ins Grüne. Ihre Mutter kommt oft zu Besuch.
2008 muss die Familie nach Koblenz umziehen, wo Nicole Strebes Mann eine neue Stelle hat. Die junge Frau ist nun Hunderte Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Sie findet sich in einer ihr völlig fremden Welt wieder, die ihr vor Augen führt, wie groß die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen noch sind.
Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten. Strebe ist überrascht, dass die Kinderbetreuung genauso gut läuft wie im Osten. Felix und Theo können in den Kindergarten gehen. Strebe selbst arbeitet damals auf dem Jugendamt, mit den Kollegen redet sie über die Kindheit und stellt fest, dass sie alle mit denselben Fernsehsendungen aufgewachsen sind: "Knight Rider", "A-Team", da kann sie mitreden. Zu DDR-Zeiten haben sie und ihre Eltern Westfernsehen geschaut.
Mit zwei Kindern und der Vollzeitstelle folgt Strebes Leben einer klaren Struktur: Arbeiten, anschließend die Kinder zum Schwimmen oder Fußballtraining bringen. Am Wochenende gibt es dann auch nur die Familie. Wandern, Spielen, ins Kino gehen. Während ihr Mann zumindest Fußball spielt, hat Nicole Strebe nie Zeit für sich. Im Januar 2014 trennt sie sich und trifft eine Entscheidung: Sie will zurück in ihre Heimat.
Im August 2015 zieht Nicole Strebe mit ihren beiden Söhnen nach Lieskau, ein kleines Dorf mit 248 Einwohnern, nur wenige Kilometer von Finsterwalde entfernt. Ihre Rückkehr ist Teil eines Trends in den neuen Bundesländern, der sich in den vergangenen Jahren beobachten lässt. Studien zufolge ist mittlerweile jeder zehnte abgewanderte Ostdeutsche wieder zurück. Die meisten sind überdurchschnittlich gebildet. Sie kommen vor allem aus persönlichen Gründen, wegen der Familie, des Freundeskreises. Aber auch, weil sich die Lebensbedingungen in den vergangenen 27 Jahren durchaus verbessert haben.
Zwar hinkt der Osten dem Westen immer noch hinterher, etwa bei den Löhnen oder Renten. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit gesunken, die Wirtschaftskraft hat zugenommen. Ostdeutschland lebt vor allem von einer kleinteiligen Wirtschaft, von Menschen, die sich letztlich wegen fehlender Arbeitgeber selbständig gemacht haben. Die Region um Finsterwalde hat sich mittlerweile zum Standort für große und mittelständische Betriebe entwickelt.
Strebe bereut die Entscheidung nicht
Bei der Suche nach einem Job ist Nicole Strebe überrascht von der Zahl der Angebote, die es selbst im sozialen Bereich mittlerweile gibt. Sie arbeitet nun bei der Arbeiterwohlfahrt, berät Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung. "Früher hätte ich nur die Auswahl gehabt zwischen diesem einen Job oder gar keinem. Heute könnte ich einfach wechseln". Sie arbeitet Teilzeit. Ihre Eltern, beide 62 Jahre alt, nehmen ihr viel ab. Sie holen die Kinder vom Fußballtraining, bringen sie heim, wenn die Tochter mal länger arbeiten muss. Vater Gerhard Schober wohnt direkt im Haus nebenan und kann im Notfall immer einspringen.
Nicole Strebes Söhne Felix und Theo denken sehr unterschiedlich über die Rückkehr nach Finsterwalde. Der neunjährige Theo zählt begeistert auf, was er alles macht: Fußball spielen, Hip-Hop tanzen, Schwimmen. Felix, mittlerweile ein Teenager, meint nur: "Hier ist doch nüscht." Anders als seine Mutter in ihrer Jugend, hat der 14-Jährige kaum Freunde gefunden. Meistens sitzt er daheim auf der Couch und beschäftigt sich mit seinem Handy. Rausgehen und feiern geht auch nicht. Die alte Dorfdisco ist geschlossen.
Strebe hat ihre Entscheidung trotzdem nicht bereut: "Ich finde es super, wieder hier zu sein", sagt sie. Klar, es ist etwas anderes als Koblenz, provinzieller, man kennt sich. Doch genau das schätzt Strebe, so wie die Bescheidenheit der Menschen. "Keiner schert sich darum, ob er jetzt ein tolles Haus hat oder einen Pool", sagt sie. Die Leute seien einfacher, man helfe sich gegenseitig, sei füreinander da. Und im Vergleich zu den neunziger Jahren sei auch eine gewisse Lebenslust zurückgekehrt, findet sie.
Auch Nicole Strebe hat eine Vision, sie will einen besseren Zusammenhalt im Dorf. Sie ist in der Jagd-Genossenschaft, bei der Freiwilligen Feuerwehr. Dort haben sie gerade einen Verein speziell für die Kinder gegründet. Für Ende Oktober plant Strebe eine Halloween-Feier mit selbst gemachtem Essen. Von den Einnahmen sollen die Kinder neue T-Shirts bekommen oder vielleicht auch neue Zelte. "Egal was anliegt, sie hebt immer ihre Hand", sagt ihre Mutter. "Wenn die so weitermacht, dann wird sie noch Bürgermeisterin."
Die Rückkehrer sind wichtig
Strebe sieht ihr Engagement als klare Positionierung zu denen, die Anfang Juli auf dem Marktplatz Bundeskanzlerin Angela Merkel niederbrüllten und ihren Sohn in solche Angst versetzten. "Das sind Menschen, die nur schimpfen können anstatt selbst etwas anzupacken", sagt sie. Diesen Hass, vor allem auf Fremde, kann sie nicht nachvollziehen. Sie selbst weiß, wie es ist, irgendwo neu anfangen zu müssen. "Wir Rückkehrer haben andere Erfahrungen gemacht als die, die dageblieben sind. Wir wissen, wie wichtig das Gefühl ist, angenommen zu werden."
Genau wegen dieser Erfahrungen sind die Rückkehrer so wichtig für die neuen Bundesländer. Sie werden gebraucht. In der Zivilgesellschaft, in der Vereinsarbeit bei der Auseinandersetzung mit politischen Themen. Nicole Strebe würde sich mehr Anreize wünschen, damit noch mehr Finsterwalder zurückkehren. Die Angleichung der Löhne oder eine bessere ärztliche Betreuung auf dem Land.
Vielleicht wäre dann auch Strebes alte Clique wieder komplett und sie hätte zusätzliche Mitstreiter. Nach dem Erlebnis auf dem Marktplatz hat sie kurz darüber nachgedacht, eine Gegendemonstration zu organisieren. Aber sie kann ja nicht alles allein machen.