Regierungsbildung:Es ist an der Zeit, dass das Parlament seinem Namen wieder alle Ehre macht

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Vereidigung im Bundestag am 22. März 2017). (Foto: AFP)

Die Regierungssuche hat die Bundesrepublik so noch nicht erlebt. Statt sich auf den Bundespräsidenten zu verlassen, sollte Deutschland die Lage als starke Stunde des Bundestags erkennen.

Gastbeitrag von Thorsten Kingreen

Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen befinden wir uns in einer verfassungsrechtlichen Situation, die die Bundesrepublik Deutschland noch nicht erlebt hat. In einem politischen System, das sich aufgrund historischer Erfahrungen in besonderer Weise der Stabilität verschrieben hat, erzeugt das naturgemäß Unsicherheit. Wir suchen nach einem Abteilungsleiter Befindlichkeit, der uns mit der notwendigen Autorität von Person oder Amt sagt, wie es weitergehen soll. Im antipolitischen Affekt und in neomonarchistischer Verklärung richten sich daher nun alle Augen auf den Bundespräsidenten. Der Amtsinhaber ist eine respektable und weithin respektierte Persönlichkeit, dem wir das Land gerne anvertrauen. Möge er die gespaltene Gesellschaft und die Parteien wieder zusammenführen, am besten durch eine Rede an die Nation, mag mancher denken.

Die Bundesrepublik ist eben keine Monarchie

Aus verfassungsrechtlicher Perspektive jedoch stimmt etwas nicht mit dieser öffentlichen Fokussierung auf den Bundespräsidenten. Es hilft, wenn wir uns nach 50 Tagen Jamaika-Träumen und vor einer langen Suche nach einer Alternative wieder auf unseren Staatsnamen besinnen. Deutschland ist eine Republik. Im Kreis der anderen Verfassungsprinzipien in Artikel 20 des Grundgesetzes (Demokratie, Rechtsstaat, Bundesstaat, Sozialstaat) ist die Republik ein Mauerblümchen, weil sich ihr Aussagegehalt weitgehend darauf beschränkt, dass die Bundesrepublik eben keine Monarchie ist. Es lohnt sich aber, dies unter den gegebenen Umständen noch einmal in Erinnerung zu rufen. Der Monarch verkörperte die Einheit des Staates und der Gesellschaft, seine Herrschaftsansprüche leitete er früher auch gerne von Gott ab. Die französische und die amerikanische Revolution haben dieses monarchische Konzept der Legitimation zwar erschüttert, aber diese Entwicklung erreichte Deutschland erst mehr als 100 Jahre später, und das auch nur in homöopathischer Verdünnung. An die Stelle von Kaiser Wilhelm rückte in der Weimarer Republik ein unmittelbar vom Volk gewählter Reichspräsident, der 1930 faktisch die Funktion des Gesetzgebers übernahm und damit der Diktatur den Weg ebnen konnte.

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:Was Neuwahlen kosten würden

Noch einmal Wahlunterlagen drucken, noch einmal Zigtausende Wahllokale besetzen: Eine Neuwahl des Bundestags wäre nicht nur aufwendig, sondern auch teuer.

Das Grundgesetz hat sich davon distanziert, ohne dass es sich ganz vom Präsidentenamt abwenden mochte. Der republikanische Bundespräsident wird nicht vom Volk gewählt, und er hat weitgehend nur noch repräsentative Funktionen, sieht man einmal von seiner (verfassungspolitisch überflüssigen) Befugnis ab, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu prüfen. Trotzdem bezeichnen wir ihn in monarchischer Tradition immer noch als Staatsoberhaupt (ein Begriff, den das Grundgesetz nicht verwendet) und verbinden mit ihm allerlei Wünsche nach Integration, Harmonie und Stabilität.

In der Kanzlerwahl verwirklicht sich die Parlamentarisierung der Regierung

Die verfassungsrechtliche Funktion des Bundespräsidenten ist indes viel bescheidener, auch in der jetzigen Situation. Anders als noch in der Weimarer Zeit beschränkt sie sich darauf, dem Bundestag einen Kandidaten für die Wahl des Bundeskanzlers vorzuschlagen. Diesen Vorschlag macht er nicht aus monarchischer Machtvollkommenheit, sondern unter Berücksichtigung der politisch-parlamentarischen Willensbildung. In der Kanzlerwahl verwirklicht sich dann die konsequente Parlamentarisierung der Regierung: Ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten wählt allein der Bundestag den Bundeskanzler, und für den zweiten Wahlgang entscheidet nur er darüber, wer sich zur Wahl stellen soll; der Bundespräsident hat noch nicht einmal ein Vorschlagsrecht. In beiden Wahlgängen bedarf es der Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestages (derzeit also 355), die ein Kandidat auch dann erreichen kann, wenn zuvor Sondierungen oder Koalitionsverhandlungen gescheitert sind. Abgeordnete, die nach dem ersten Blick in die Post-Jamaika-Umfragen vielleicht gerade kein Interesse an Neuwahlen haben und mit der Amtsinhaberin eigentlich ganz gut leben können, könnten für die erforderlichen Stimmen sorgen.

Der Bundespräsident muss den Gewählten dann ohne eigenes Mitgestaltungsrecht ernennen. Er kommt erst wieder ins Spiel, wenn der vorgeschlagene Kandidat im dritten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit bekommt. Aber auch dann wird er seine Entscheidung - Ernennung des Gewählten oder Auflösung des Bundestages - nur unter Berücksichtigung des politischen Willens der Parlamentarier treffen. Und wenn der Bundestag mit dem ernannten (Minderheits-)Kanzler nicht einverstanden ist, kann er später jederzeit und ohne Einschaltung des Bundespräsidenten über ein konstruktives Misstrauensvotum einen anderen wählen. Das bedeutet: Jetzt schlägt daher endlich die Stunde des Bundestages, von dem man seit seinem Zusammentritt vor einem Monat überhaupt nichts mehr gehört hat.

Neuwahlen würden Deutschland ein halbes Jahr europapolitisch lahmlegen

Die gewählten Parlamentarier sollten sich daher schon um ihrer republikanischen Selbstachtung willen von einer neomonarchistischen Retroromantik und einem falsch verstandenen Stabilitätsdogma distanzieren. Allein ihnen weist das Grundgesetz die Zuständigkeit und die Verantwortung für die Entscheidung zu, wie es jetzt weitergeht. Sie könnten zu dem Schluss kommen, dass eine sogenannte Minderheitsregierung vielleicht gar nicht so schlimm ist und schon im ersten Wahlgang einen Kandidaten mit der erforderlichen Mitgliedermehrheit ausstatten. Dagegen wird zwar gerne vorgebracht, dass Minderheitsregierungen in Deutschland keine Tradition hätten und Deutschland angesichts der derzeitigen instabilen Lage in Europa eine stabile Regierung benötige. Aber dieses Argument ist nicht sonderlich stark. Die Alternative Neuwahlen würde Deutschland für ein weiteres halbes Jahr europapolitisch lahmlegen. In vielen europäischen Staaten haben zudem Minderheitsregierungen eine schon langjährige Tradition, namentlich in den skandinavischen Ländern, die bislang nicht als Orte der Instabilität aufgefallen sind. Wenn sich eine Regierung nicht immer auf die gleichen Mehrheiten verlassen kann, kann das die Lebhaftigkeit in die parlamentarischen Debatten zurückbringen, die diese in den vergangenen Jahren verloren haben. Fraktions- und Koalitionsdisziplin haben diese Debattenkultur in den vergangenen Jahren weitgehend unterbunden; wurden sie ausnahmsweise einmal aufgehoben, war fast immer von "Sternstunden des Parlaments" die Rede.

Es ist daher an der Zeit, dass das Parlament seinem Namen wieder alle Ehre macht. Für diese Erkenntnis brauchen wir keinen Befindlichkeiten auslotenden Bundespräsidenten, sondern ebenso fantasievolle wie kompromissbereite Parlamentarier, die nicht nur Steigbügelhalter einer Regierung sind.

Der Gastautor Thorsten Kingreen, 52, lehrt Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg.

© SZ vom 01.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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