Rechtsstreit in Großbritannien:Wer ist Jude?

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Muss eine jüdisch-orthodoxe Schule auch nicht orthodoxe Schüler zulassen? Ein heikler Fall des britischen Supreme Court wirft Fragen zur jüdischen Identität auf.

Andreas Zielcke

Ob wirklich aller Anfang schwer ist, mag dahinstehen. Dass es aber ihr Anfang in sich hat, können die zwölf Richter des britischen Supreme Court mit einem Stoßseufzer bekräftigen. Das höchste Gericht Großbritanniens ist erst seit Oktober installiert (bis dahin nahm das House of Lords diese Funktion wahr), doch schon sein fünfter Fall ist an Brisanz kaum zu übertreffen. Wer, das muss es entscheiden, wer ist Jude? Noch vor Jahresende soll das Urteil fallen.

Erst seit 1. Oktober im Amt und schon so ein komplizierter Fall: Die obersten Richter Großbritanniens (Foto: Foto: Reuters)

"Für die britische jüdische Gemeinde", schreibt der Londoner Jewish Chronicle, "dürfte es sich um den bedeutendsten Fall der neueren Geschichte handeln". Tatsächlich reicht seine Bedeutung weit über das Königreich und dessen jüdische Bürger hinaus.

Wer ist Jude? Darüber können weltliche Gewalten in Europa nicht mehr urteilen, ohne die historische Belastung zu bedenken, die allein mit der puren, von Amts wegen gestellten Frage wieder aufscheint. Darf sie außerhalb Israels überhaupt von einem staatlichen Organ gestellt - und beantwortet werden?

Auslöser des Verfahrens ist ein Streit um die Zulassung zu einer jüdischen Highschool in London. Dem zwölfjährigen "M." wurde die Aufnahme trotz seines jüdischen Glaubens verweigert. Die Schule, 1732 als Jews' Free School gegründet, heißt heute nurmehr "JFS" und zählt zu den besten Schulen des Landes.

Wie alle privaten, aber staatlich subventionierten Schulen kann auch die JFS ihre Schüler selbst wählen, solange die Diskriminierungsverbote beachtet werden. Das Verbot, nach religiösen Kriterien auszuwählen, nimmt konfessionelle Schulen natürlich aus - jedoch erst dann, wenn es mehr Bewerber als Plätze gibt. Diese Bedingung erfüllt die JFS wegen ihres exzellenten Rufs problemlos.

Bei ihrer Ablehnung von M. beruft sie sich auf ihre Satzung, die sie "in Glauben und Praxis auf die Grundsätze des orthodoxen Judentums" festlegt. M.s Vater ist geborener Jude, M.s Mutter zum jüdisch-progressiven Glauben konvertiert. M selbst ist "praktizierender" Jude seit der Kindheit, nicht aber nach orthodoxen Regeln konvertiert. Er wäre nach diesen Regeln daher nur jüdisch, wäre er von einer jüdischen Mutter geboren.

"Jüdische Mutter" wiederum bedeutet, dass diese entweder ihrerseits von einer jüdischen Mutter abstammt oder aber (vor der Geburt des Kindes, um das es geht) mit Bestätigung eines orthodoxen Rabbi zum Judentum konvertiert ist. Beides ist bei M.s Mutter nicht der Fall, M. also in orthodoxen Augen kein Jude.

Nachdem der klagende Vater in erster Instanz unterlag, gab ihm das Berufungsgericht recht. Dessen Begründung ist sensationell, sie setzt die gesamte Tradition des orthodoxen jüdischen Glaubens unter dem Druck heutiger Gleichheitsgebote in ein prekäres Licht. Die Ablehnung von M., so der Urteilstenor, widerspreche dem Verbot der "racial discrimination", der rassischen Diskriminierung.

Dass gegen eine jüdische Institution dieser Begriff gebraucht wird, der in allen westlichen Staaten der Nachkriegszeit nicht zuletzt zum Schutz jüdischer Minderheiten vor ihren rassistischen Feinden dient, gibt dem Urteil seinen dramatischen Akzent. Selbstverständlich unterstellt das Gericht der Schulleitung weder böse Absichten noch eine obskure Rassenlehre. Aber die Tatsache, dass die Zulassung von M. daran scheitere, dass er nicht von einer jüdischen Mutter abstamme, laufe auf eine "Diskriminierung aus rassischen Gründen" hinaus.

Den Einwand, dass das matrilineare Element in der Definition eines "Juden" rein religiöser Natur und konstitutiv für den orthodoxen Glauben sei, in dessen Lehre sich kein Staat einmischen dürfe - so wenig wie in christliche, muslimische oder auch progressiv-jüdische Glaubenssätze -, diesen Einwand lassen die Richter trotz Religionsfreiheit nicht gelten: Mit solcher Logik "hätte auch die Dutch Reform Church of South Africa, die bis vor kurzem glaubte, dass Schwarze minderwertig und zu einem von Weißen getrennten Leben bestimmt seien, Schwarzafrikaner offen diskriminieren können, ohne das Gesetz zu brechen". Keine religiöse Unterscheidung dürfe zur Folge haben, dass jemandem der Zugang zu einer öffentlich regulierten Einrichtung verwehrt wird, weil er die falsche genealogische Herkunft habe.

Rechtstechnisch geht das Gericht bei der Anwendung des "Race Relation Act" präzise vor, ja es bietet ein Lehrbeispiel unbeeindruckt-kühler Subsumtionskunst. Im Anschluss an ein Urteil des House of Lords von 1983 führt es aus, dass die Diskriminierungsverbote des Race Relation Act keinen Begriff von "Rasse" im Sinne (pseudo-)wissenschaftlich feststellbarer biologischer Merkmale unterstellten. "Rasse" meine hier vielmehr jede Bevölkerungsgruppe, die sich durch ihre Geschichte und kulturelle Tradition, durch ihre Sprache, Sitten und meist auch religiöse Bindung, oft auch durch ihre geographische Herkunft von anderen Gruppen hinreichend unterscheide.

"Unbiologisch", wie dieser Begriff ist, beinhaltet er dennoch, dass man nur durch Geburt Mitglied einer so definierten Gruppe sein kann, nicht durch einen bloßen Willens- oder Glaubensakt. Für alle großen Religionen genügen aber solche Glaubensakte, um als ihr Mitglied zu gelten - mit Ausnahme eben der jüdisch-orthodoxen Religion, die ein ethnisches Moment einschließt. Und wegen dieses Moments fällt sie zweifellos unter den neutralisierten "Rasse"-Begriff des britischen Gesetzes.

Trotzdem zeigt auch diese unideologische Fassung von "Rasse", dass die Richter die "exception religieuse" (frei nach Tocqueville) des Judentums wohl doch nicht tief genug ergründet haben. Das wird nun die Aufgabe des Supreme Court sein.

Denn die Doppelnatur der orthodoxen Lehre, die das religiöse Element mit dem ethnisch-matrilinearen verschmilzt, lässt sich nicht künstlich auftrennen in eine legitime religiöse und eine illegitime "rassische" Komponente, ohne ihr - auch juristisch - Gewalt anzutun. So schwer sich auch liberale und selbst konservative jüdische Glaubensanhänger mit der "antiquierten" Orthodoxie tun, so würde ihr doch keiner unterstellen, man könne sie wie ein Gebilde aus Legobausteinen zerlegen und ihre "störenden" Bausteine aussortieren.

Doch vor aller Prüfung der theologischen Essenz der Matrilinearität führt der Vergleich mit einer Apartheids-Kirche wie der Dutch Church of South Africa schon aus Gründen rechtlicher Begriffslogik in die Irre: Die südafrikanische Kirche unterschied innerhalb ihrer Gemeinschaft zwischen zwei Gruppen von Gläubigen - eine höher- und eine minderwertige Gruppe.

Die jüdisch-orthodoxe Auffassung hingegen grenzt lediglich ihre Gläubigen nach außen vom nicht strengjüdischen Rest der Welt ab. Die innerreligiöse Diskriminierung war der Dutch Church eingeschrieben, sie war beabsichtigt, während die jüdisch-orthodoxe Lehre keine immanent abwertende Benachteiligung einschließt, weder absichtlich noch unabsichtlich.

Vor allem aber blendet der Vorwurf der rassischen Diskriminierung aus, dass es für die Zugehörigkeit zum orthodoxen Glauben genügt, wenn man von einer (gültig) konvertierten Mutter abstammt oder aber selbst (gültig) konvertiert. In diesen Fällen wird also kein genealogisches, ja noch nicht mal ein ethnisch-rassisches Element in dem neutralen Sinn des Race Relation Act vorausgesetzt.

Auch der orthodoxe Glaube lässt darum, wenn auch ausnahmsweise, durchaus den Glaubensakt für den Religionseintritt hinreichen. Dieser ist zwar an komplexe Bedingungen geknüpft, insbesondere an eine jahrelange Praxis der Befolgung möglichst aller 613 Mitzwot, der talmudischen Gebote - was die Konversion für ein Kind, das vor der Sekundarschule steht, enorm erschwert. Doch der "Rasse"-Vorwurf wird durch den alternativen Zugang über die Konversion prinzipiell entkräftet.

Prinzipiell, aber nicht konkret? In der Tat, sind nicht allein wegen der steinigen Anforderungen an die orthodoxe Konversion am Ende doch diejenigen "rassisch" privilegiert, die eine jüdische Mutter haben? Schließlich kommen sie ohne eigenes Zutun in den Genuss der religiösen Mitgliedschaft, den sich die Aspiranten erst hart erarbeiten müssen.

Wenigstens die Antwort hierauf ist klar: Die unterschiedliche Behandlung diskriminiert so wenig wie die analoge Handhabung bei der Staatsbürgerschaft. Auch die Staatsbürger qua Geburt sind ja gewaltig im Vorteil gegenüber den Einwanderern, die sich der langwierigen Einbürgerungsprozedur unterwerfen müssen. Offensichtlich lässt der Gleichheitssatz solche Bevorzugung des Autochthonen zu. Als illegitim oder gar "rassistisch" gilt sie in keinem Rechtsstaat.

Das alles wären normale verfassungsrechtliche Details, würden sie sich nicht in diesem Fall wegen der moralischen und politischen Bedeutung der Frage, wer Jude ist, zu einem kolossalen Problem auftürmen. International ist die britische Situation zwischen den beiden Polen angesiedelt, auf die sich der vergleichende Blick nicht zufällig am ehesten richtet, zwischen dem deutschen und dem israelischen Pol. In Deutschland gibt es keine orthodox-jüdische Schule, die ihren Einlass nach den rigiden halachischen Kriterien steuern würde. Keine Behörde ist hier deshalb mit dieser konfliktbeladenen Frage konfrontiert.

Für Israel aber stellt sich die Frage natürlich - und das in ganz anderen Dimensionen. Zu allererst bei der Einwanderung: Sie steht seit der Staatsgründung "jedem Juden" offen. Doch längst ist diese Prämisse in der geltenden Fassung des "Rückkehrgesetzes" so weit gefasst, dass von einem ethnisch-matrilinearen Zwang keine Rede sein kann.

Anders verhält es sich bei den orthodoxen Schulen Israels, zumal wenn sie staatlich subventioniert sind: Die Aufsichtsregeln verlangen zwar meist, auch nicht orthodoxe Juden zuzulassen, in der Praxis jedoch wird vielen Schulen nicht hineinregiert. Die Folge sind auch hier rechtliche Konflikte um den Eintritt - mit der Justiz stehen nicht wenige Orthodoxe regelrecht auf Kriegsfuß. Nie allerdings käme ein israelisches Gericht auf die Idee, den Orthodoxen "rassische" Diskriminierung vorzuhalten, weil sie nach der mütterlichen Religion fragen.

Der Vorwurf, würde er denn in London höchstrichterlich bestätigt, träfe darum das religiöse, aber auch das weltliche Israel schwer - aufreibend wie die Konflikte um die "jüdische Identität" ohnehin sind. Kein Wunder also, dass man dort auf das Urteil ebenso gespannt wartet wie in den jüdischen Gemeinden des Königreichs.

© SZ vom 26.11.2009/bavo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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