Als der Ostblock noch existierte, gab es in der Bundesrepublik zur steten Erinnerung an den Kalten Krieg und zur Warnung vor einem heißen einen sogenannten Probealarm der Sirenen: Zweimal im Jahr, jeweils an einem Mittwoch im März und an einem Mittwoch im September vormittags um zehn Uhr heulten hunderttausend Sirenen auf den Dächern von Schul- und Rathäusern. Die Schülerinnen und Schüler schreckten hoch, und der Lehrer erzählte ihnen von den Schrecken des Krieges. Diese Sirenen sollten der Bevölkerung gegebenenfalls feindliche Angriffe ankündigen. Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsender erklärten vor jedem Probealarm die diversen Heultöne. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden die meisten Geräte abgebaut, die Alarmiererei wurde eingestellt.
Hätte es die Sirenen am 11. September 2001 noch gegeben und hätte man damit Alarm geben wollen - man hätte nicht gewusst mit welchem Heulton: Die Bedrohung durch islamistische Terroristen war so anders als die Bedrohung, gegen die sich der Westen zu Zeiten des Kalten Krieges gerüstet hat. Vielleicht haben die Politiker in der Zeit nach dem 11. September - auch in Deutschland - so oft von einer "Kriegserklärung" der Terroristen geredet und geschrieben, vom "Kriegszustand" in dem man sich befinde, und vom "Krieg", den man führen müsse, weil ein "Krieg" die Kategorie war und ist, die traditionell die maximale Gefahr bezeichnet.
Zu RAF-Zeiten, also zehn, fünfzehn Jahre vor dem 11. September, hatte es die deutsche Politik noch abgelehnt, das Vokabular der Terroristen zu übernehmen, die den "Krieg gegen das System" propagierten und daher vom Staat als Kombattanten behandelt werden wollten. Der Staat betrachtete die RAF-Mitglieder, bei aller Hysterie, die es damals gab, letztlich doch als Straftäter, wenn auch einer ganz besonders gefährlichen Art.
Alarmgesetze statt Alarmsirenen
Nach dem 11. September gab es anstelle von Sirenenwarnungen in den Ländern der westlichen Welt Alarmgesetze, die das Sicherheitsrecht umfassend änderten. Straf- und Sicherheitsrecht wurden zu einer Waffe im Krieg gegen den Terrorismus. Der Bundestag verabschiedete knapp drei Monate nach den Anschlägen von New York und Washington, am 14. Dezember 2001, die größten Sicherheitspakete in der Geschichte der Bundesrepublik - mehr als hundert Gesetzesänderungen.
Die Regelungen überstiegen sowohl quantitativ als auch qualitativ die Verschärfungen der RAF-Zeit um ein Vielfaches. An der Verabschiedung noch vor Weihnachten 2001 maß Otto Schily, der damalige SPD-Bundesinnenminister der rot-grünen Koalition, seine exekutive Kraft. Als die Pakete quasi unter dem Christbaum lagen, konnte Schily stolz von sich sagen, dass noch kein Innenminister der Bundesrepublik Gesetzesänderungen von dieser Dimension in so kurzer Zeit durchgesetzt hatte.
Zum Nachdenken und Beraten blieb damals keine Zeit. Das war in allen Parlamenten der westlichen Länder so. Keiner blickte durch, aber alle waren dafür. Die parlamentarische Hast bei der damaligen Anti-Terroristen-Gesetzgebung war ein Vorgeschmack auf das Prozedere, das sich dann knapp zehn Jahre später bei den legislativen Rettungspaketen für Banken und den Euro einbürgerte. Es war damals gewissermaßen ein Ausdruck des schlechten Gewissens des deutschen Gesetzgebers, dass er die neuen Gesetze nur befristet für fünf Jahre in Kraft setzte. Damit war signalisiert, dass es sich um Ausnahmegesetze handelte. Aber die befristeten Gesetze wurden dann 2006 und soeben wieder weiter verlängert. Aus den Sonderregeln wurde binnen zehn Jahren Alltag.
Der neue Präventionsstaat
Otto Schily sprach damals, 2001, von einem "epochalen Werk". Dieses epochale Werk ist das Fundament des neuen Präventionsstaats, der dem klassischen Rechtsstaat folgt. Dieser Präventionsstaat setzt seine Bürger, um die Sicherheitsrisiken für sie zu minimieren, massiven Misstrauens- und Überwachungsmaßnahmen aus, die nicht auf einem konkreten Verdacht gegen die überwachten Bürger beruhen.
Zu diesen Überwachungsmaßnahmen gehören der geheime Zugriff auf Bank-, Post-, Luftverkehrs- und Telekommunikationsdaten und ihre umfassende Registrierung, dazu gehören Lauschangriffe und heimliche sonstige Überprüfungen. Das Sicherheitspaket: Stimmen von Ausländern dürfen aufgezeichnet werden, ihre Fingerabdrücke werden zehn Jahre lang aufbewahrt; Pässe und Personalausweise der Deutschen werden mit deren biometrischen Merkmalen ausgestattet.
Elf Jahre nach 9/11:New York gedenkt der Opfer der Terroranschläge
Elf Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center gedenkt Amerika der knapp 3000 Opfer vom 11. September 2001. In der Vergangenheit hielten bei den Gedenkfeiern in New York Politiker wie US-Präsident Barack Obama Reden. In diesem Jahr steht der persönliche Schmerz der Zurückgebliebenen im Mittelpunkt.
Im Präventionsstaat verschwimmen die Grenzen zwischen Unschuldigen und Schuldigen, zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen. Im klassischen Rechtsstaat hat das Recht hier sehr genau unterschieden: Es hat Beweise, also konkrete Fakten gefordert, um jemanden verdächtigen und in seine Grundrechte eingreifen zu können. Nun aber gilt jeder Einzelne zunächst einmal als Risikofaktor, jeder Einzelne muss es sich daher gefallen lassen, dass er - ohne einen konkreten Anlass dafür geliefert zu haben - "zur Sicherheit" überwacht wird.
An die Stelle des konkreten Verdachts ist also ein Anfangs-Generalverdacht getreten. Wenn sich dann ergibt, dass der so Beobachtete, Registrierte, Belauschte und Geprüfte nicht gefährlich ist - dann wird er wieder zum Bürger. Er muss aber sozusagen erst beweisen, dass er nicht gefährlich ist.
Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten: Mit diesem Satz begründeten Politiker in ganz Europa die Sicherheitsgesetze nach dem 11. September: Das Recht wurde verdünnt, um angeblich mit den globalen Risiken besser fertig zu werden.
In den USA wankte das Verbot bestimmter Foltermethoden, vulgo Folter. Waterboarding wurde zur probaten Befragungsmethode. Bei Terrorverdächtigen, die irgendwo auf US-Stützpunkten festgehalten wurden, galt das Folterverbot gar nicht mehr. Und terrorverdächtig war jeder, der des Terrors beschuldigt wurde.
In Deutschland hielt die Politik zwar am Folterverbot fest, erging sich aber in martialischen Ankündigungen: "Die Terroristen sollen wissen: Wenn ihr den Tod so liebt, dann könnt ihr ihn haben", erklärte Bundesinnenminister Otto Schily im Interview. Sein Nachfolger Wolfgang Schäuble, CDU, Innenminister der großen Koalition aus Union und SPD, setzte hinzu, dass Erkenntnisse, die unter fremder Folter erlangt worden sind, in Deutschland gleichwohl verwertet werden dürften.
Terroristen haben den Geist der Gesetze verseucht
Die Terroristen sind nach dem 11. September 2001 nicht, wie damals befürchtet, in Atomkraftwerke und Wasserversorgungsanlagen eingedrungen. Sie haben nicht das Trinkwasser, sondern den Geist der Gesetze verseucht. In Washington, London, Rom, Paris und Berlin wurden vergiftete Paragraphen und Gesetzesartikel produziert. Rechtsstaatliche Grundprinzipien wurden geopfert, die polizeiliche Prävention und die Strafverfolgung verkamen partiell zu einer Art Inlandsspionage.
Die bisherigen rechtsstaatlichen Fundamentalgewissheiten sind seit dem 11. September 2001 nicht mehr so gewiss, wie sie es vorher waren. Weltweit wurde damit begonnen, die fundamentalen Rechtsgrundsätze unter Vorbehalt zu stellen - hier diese, dort jene Grundsätze: die Öffentlichkeit des Strafverfahrens; die Trennung von Polizei und geheimen Sicherheitsdiensten; die alsbaldige Kontrolle von Verhaftungen und sonstigen Grundrechtseingriffen durch unabhängige Richter; das Recht auf Akteneinsicht, das Recht auf freie Wahl des Verteidigers; die öffentliche Beweisführung; der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten"; die Gleichheit vor dem Gesetz, das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden; den Grundsatz des fairen Verfahrens; die Genfer Konvention über die Behandlung von Gefangenen. Der Vorbehalt lautete: Die rechtsstaatlichen Kataloge sind schön und gut - aber nur solange sie die Bekämpfung des Terrorismus nicht behindern.
Am weitesten ging dabei die US-Regierung. Die Fahndungs-, Justiz- und Einwanderungsbehörden, so hatte es US-Justizminister John Ashcroft alsbald nach den Terroranschlägen angekündigt, wurden "mobilisiert und unter Kriegsbedingungen reorganisiert".
Wer in den Dunstkreis des Terrorismus geriet, wurde nahezu vogelfrei: Acht, Bann und Rechtlosigkeit für verdächtige Ausländer. Gegen Terroristen und vermeintliche Terroristen wurde ein Sonderrecht geschaffen, das mit dem Recht für die normalen Bürger nichts mehr zu tun hat. Dieses Sonderrecht praktiziert oder akzeptiert die Folter, es trachtet nach Inhaftierung ohne konkreten Schuldnachweis, also aufgrund angenommener Gefährlichkeit. Es verkehrt die Unschuldsvermutung in ihr Gegenteil. Es ist ein Feindrecht. Und wer ist Feind? Das bestimmt die Definitionsmacht der herrschenden Politik.
Die amerikanische Denkungsart färbte auf die deutsche Rechtswissenschaft ab. "Wer sich dauernd wie der Satan aufführt, den kann man nicht als Rechtsperson behandeln", schrieb der Bonner Strafrechtler Günther Jakobs 2004 in einem Vortrag über "Staatliche Strafe". Solchen Leute wird also das Recht, Rechte zu haben, abgesprochen. Auf diese Weise wird vom normalen Strafrecht ein Feindstrafrecht abgespalten. Und das verbleibende normale Strafrecht verwandelt sich in ein Gefahrenvorbeugungsrecht: Je größer die Gefahr ist oder je größer sie erscheint, umso einschneidender werden die Maßnahmen, die, auch gegen völlig Unverdächtige, ergriffen werden, um so, angeblich, die Gefahr zu bannen oder zu minimieren. Das führt zu immer umfassenderer Überwachung und Kontrolle.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat sich dem Geist dieser neuen Sicherheitsgesetze und dessen Konkretionen in einer beeindruckenden Serie von Entscheidungen entgegengestellt: Glasklar sind die Darlegungen in der Entscheidung zur Rasterfahndung im Jahr 2006: Die Richter wollten es nicht dulden, dass der Gesetzgeber seit dem 11. September die rechtlichen Hürden für den Zugriff auf den Bürger immer niedriger gemacht hat.
Je böser der Feind, desto geringer die rechtsstaatlichen Skrupel
Die höchsten Richter verwarfen den Satz, den Politik und Gesetzgebung zum neuen Kernsatz der inneren Sicherheit gemacht haben; er heißt: Je böser der Feind, desto geringer die rechtsstaatlichen Skrupel. Das Verfassungsgericht setzte an dessen Stelle einen rechtsstaatlichen Merksatz: "Daran, dass er auch den Umgang mit seinen Gegnern den allgemein geltenden Grundsätzen unterwirft, zeigt sich gerade die Kraft des Rechtsstaats."
Das war wohl auch die Antwort auf Schilys Satz vom Tod, den die Terroristen haben könnten. Anders gesagt: Ein Staat, der im Irrglauben, auf diese Weise den Rechtsstaat zu verteidigen, das Recht verkürzt, ist nicht stark, sondern schwach. Ähnlich das Fazit des Karlsruher Urteils gegen das Luftsicherheitsgesetz, das die Rechtsgrundlage dafür sein sollte, entführte Flugzeuge samt Besatzung und Passagieren von der Bundeswehr abschießen zu lassen: Bei der Verteidigung des Rechts gegen den Terror darf, so die Richter, das Recht dem Terror nicht geopfert werden.
Fast alle Verfassungsgerichte der westlichen Staaten waren in den vergangenen zehn Jahren ein Ort des Widerstands gegen den politischen Verzehr der Bürgerrechte - das Bundesverfassungsgericht zuvorderst. Es hat in seinen Entscheidungen den Ausverkauf rechtsstaatlicher Grundsätze zu verhindern versucht und seinem Beruf, Hüter der Verfassung zu sein, alle Ehre gemacht. Dessen wird es sich demnächst, beim sechzigsten Jubiläum, besonders rühmen dürfen. Es stimmt, was der Altliberale und frühere Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch (FDP) sagt: Der Bürger hat Anspruch auf ein Parlament und eine Regierung, die dieselbe Nervenstärke und dasselbe Rechtsbewusstsein haben wie die Richter in Karlsruhe; und dazu den gleichen selbstbewussten Stolz auf die rechtsstaatliche Ordnung und den festen Willen zu ihrer Verteidigung.
Die Sicherheitsapparate eines Polizeistaates dürfen alles, was sie können. Die Sicherheitsapparate eines Rechtsstaates können alles, was sie dürfen. Sie dürfen und können ziemlich viel, aber das hat eine Grenze. Das war vor dem 11. September 2001 so, und dass muss auch danach so bleiben.