Dass Jawad M. etwas dunklere Haut hat und nicht aus Deutschland kommt, war für seine Angreifer Grund genug, ihm beide Hände zu brechen. Es passierte Anfang Juli, M. wollte vier Freunde mit seinem Auto von einem Fest, veranstaltet von einem Radiosender, im Nachbarort abholen. In seiner Heimat Pakistan wurde er als politischer Aktivist und Angehöriger einer Minderheit verfolgt. Nachdem er 2014 nach Deutschland kam, musste er drei Jahre warten, bis sein Asylstatus anerkannt wurde. So lange konnte er keinen Deutschkurs besuchen und durfte nicht arbeiten. Der 31-Jährige, ausgebildet in Informationstechnik, lebt mit seiner Familie in einer kleinen Gemeinde in Sachsen; nun will er Arbeit finden, seine fünf Kinder in Sicherheit großziehen. Ohne ihn persönlich zu kennen, haben einzelne Menschen aus seiner Region ein Problem mit ihm. Seinen vollen Namen möchte Jawad M. öffentlich nicht nennen, inzwischen hat er Angst, dass auch seiner Frau oder den Kindern etwas passiert.
"Warum bist du hier? Du musst raus aus unserem Land" wurde er von einer Gruppe Zwanzigjähriger angepöbelt, bevor drei junge Männer aus der Gruppe später zuschlugen. Exakt vier Wochen nach dem Angriff haben zwei Vermummte mit einem Baseballschläger vor seinem Haus randaliert. Sie haben heftig gegen die Haustür geschlagen und "Ausländer raus" gerufen. Einzelfälle? In Deutschland passieren solche Übergriffe täglich. Dennoch sind sie häufig nur Randnotizen in Lokalzeitungen, niemand spricht darüber. Erst wenn sich Szenen wie Ende August in Chemnitz abspielen, Videos der Angriffe im Netz sichtbar werden, wird rechte Gewalt thematisiert.
704 Angriffe auf Geflüchtete wurden im ersten Halbjahr 2018 laut Angaben des Bundesinnenministeriums verübt. 120 Menschen wurden dabei verletzt. Im Vergleich zu den beiden Vorjahren ist die Zahl der Übergriffe zurückgegangen. Im Jahr 2017 lag die Zahl der Attacken auf Geflüchtete insgesamt bei 2219 Fällen, 2016 bei 3533. Franz Zobel vom Dachverband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) warnt vor einem "besorgniserregenden Ausmaß" rechter Gewalt. "Seit Beginn der rassistischen Mobilisierung durch Pro Chemnitz, Pegida, AfD und organisierte Neonazis fühlen sich organisierte Rassisten und Neonazis überall in Deutschland ermutigt", sagt Zobel. "Wir beobachten leider auch, dass die Angriffe derzeit immer brutaler werden." Bundesweit sei es seit dem 26. August, dem Tag der ersten großen fremdenfeindlichen Kundgebung in diesem Sommer in Chemnitz, vermehrt zu tätlichen Übergriffen auf Migranten gekommen. Der Fall von Jawad M. ist nur einer aus einer langen Liste, die die Opferberatungsstellen der Länder in den vergangenen drei Wochen zusammengetragen haben. In diesem Zeitraum wurde laut VBRG beispielsweise in Altena, Nordrhein-Westfalen, ein 17-jähriger Syrer von drei Männern angegriffen und im Gesicht verletzt; in Wismar, Mecklenburg-Vorpommern, wurde ein 20-jähriger Syrer von rechten Gewalttätern mit einem Schlagring im Park attackiert. Ebenfalls innerhalb der vergangenen drei Wochen wurde in Sondershausen, Thüringen, ein 33-jähriger Eritreer von vier Männern, die der rechten Szene angehören, schwer verletzt. In Chemnitz haben am Mittwochabend mehrere Männer einen 41-jährigen Tunesier verprügelt und sich dabei, wie die Polizei es ausdrückt, "fremdenfeindlich geäußert". Der Staatsschutz ermittelt gegen die unerkannt entkommenen Täter.
Weil seine Hände eingegipst waren, musste Jawad M. drei Wochen jemand beim Essen helfen, auch jetzt fällt es ihm schwer, seine zweijährige Tochter zu halten. Freunde hatten ihm nach der Attacke Anfang August geraten, nachts nicht mehr aus dem Haus zu gehen. Er dürfe sich nicht einschüchtern lassen und dass Deutschland ein freies Land sei, sagte man ihm in der Opferberatungsstelle in Leipzig. M. würde das gerne glauben, aber nach dem Angriff hatte er selbst tagsüber Angst, alleine einkaufen zu gehen. Jawad M. erzählt, sie seien die einzige geflüchtete Familie, die freiwillig in der kleinen nordsächsischen Gemeinde geblieben ist, nachdem ihre Wohnsitzauflage ausgelaufen war. Er wollte nicht, dass seine Kinder schon wieder umziehen müssen. Dann erzählten sie, dass andere Schüler sie als "Nigger" beschimpft hatten.
Obwohl Jawad M. und seine Frau immer wieder Anschluss im Dorf suchten, fühlten sie sich bei Fußballturnieren oder Festen ausgegrenzt, keiner wollte mit ihnen sprechen. Der Familienvater muss nun Fragen seiner Kinder beantworten, auf die er selbst keine Antwort hat: "Warum wollen diese Menschen uns nicht?"
Jawad M. weiß es nicht. Die drei jungen Männer, die ihn im Nachbarort angegriffen haben, sah er auf dem Fest zum ersten Mal. Zuerst wehrte er sich gegen ihre verbalen Angriffe. "Ich habe ihnen gesagt, dass ich nicht in Deutschland bin, um ihr Geld zu nehmen, sondern dass ich arbeiten möchte." Ein Security-Mitarbeiter trieb die Männer auseinander. Aber als Jawad M. wenig später zum Parkplatz laufen wollte, wurde er verfolgt. 15 Leute liefen ihm nach - M. schätzt die meisten auf Mitte zwanzig. Sie pöbelten weiter, dann stand einer direkt vor seiner Nasenspitze. Schubste ihn. Als M. zurückschubste, bekam er von einem andern Mann einen Fausthieb, der ihn zu Boden stürzen ließ. Seine Freunde waren von anderen aus der Gruppe eingekesselt. Als er wieder zu sich kam, traf ihn noch mal ein Faustschlag. Beim Aufstehen schmerzten seine Hände, er flüchtete weiter Richtung Parkplatz. Unter dem Johlen der Angreifer stiegen seine Freunde später zu ihm ins Auto. "Loser" und "Hast du einen Führerschein", brüllte es von draußen.
Beim Fahren wurden der Schmerz in den Händen stärker. Er ließ seinen Freund auf dem Beifahrersitz die Gangschaltung bedienen. Ein paar Straßen von seinem Haus entfernt, merkte er, dass er auch nicht mehr steuern konnte. M. ließ den Freund weiterfahren, verlor aber, noch bevor das Auto vor seinem Haus stoppte, vor Schmerzen das Bewusstsein.