Chemnitz und die Folgen:Ein Nachmittag im August

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Wurden bei der Demonstration rechter Gruppen am 26. August tatsächlich dunkelhäutige Menschen gejagt? Vieles spricht dafür.

Von Oliver das Gupta, Ulrike Nimz und Antonie Rietzschel

Es war nur eine Sache von Stunden, bis sich Hunderte Rechtsextreme und Hooligans versammelten und durch Chemnitz zogen. Mit einem angeblichen Trauermarsch wollten sie Daniel H.s gedenken, der in der Nacht zuvor erstochen worden war - die Staatsanwaltschaft hat inzwischen einen Syrer und einen Iraker als Verdächtige festgenommen, nach einem dritten Asylbewerber fahndet sie. Die Videoaufnahmen, die nach dem vermeintlichen Trauermarsch am Sonntag, dem 26. August, im Netz auftauchten, stammten allerdings nicht von Kameras professioneller Fernsehteams, die sollten sich erst einen Tag später einfinden. Es sind Handyvideos, gefilmt vor allem von den Rechtsextremen selbst.

Die Videos zeigen und Augenzeugen berichten darin von "Hetzjagden" auf Ausländer beim "Trauermarsch" in Chemnitz. Dem widerspricht inzwischen aber nicht nur Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), sondern auch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen. Geht es nach ihm, gibt es keine Belege für Hetzjagden. Er spricht sogar davon, dass man gezielt "die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz ablenken" wolle.

Am fraglichen Augustsonntag hatte zunächst die Alternative für Deutschland (AfD) eine Kundgebung angemeldet, es kamen ungefähr 100 Personen. Anschließend versammelten sich etwa 800 Rechtsextreme und Hooligans am Karl-Marx-Monument, dem Wahrzeichen der sächsischen Stadt. Zunächst sei es ruhig zugegangen, sagt ein Augenzeuge namens B. zur Süddeutschen Zeitung. Der 56-Jährige möchte anonym bleiben, um sich zu schützen. B. ist deutscher Staatsbürger und vor mehr als 30 Jahren in die damalige DDR zugewandert. Er war am fraglichen Sonntag gegen 16.30 Uhr zum Marx-Denkmal gekommen. Nachdem sich der Demonstrationszug in Bewegung gesetzt hatte, wurden ausländerfeindliche und neonazistische Parolen gerufen, erzählt B. Nahe einem Supermarkt seien aus dem Demonstrationszug heraus Ausländer angegriffen worden. Die Polizei sei eingeschritten.

Demonstration in Chemnitz am 1. September. Sie folgte auf andere Demonstrationen am Wochenende zuvor. (Foto: Hannibal Haschke/Reuters)

Mehrere Teilnehmer der Demonstration berichteten per Livestream. Das längste Video dauert knapp sechs Minuten und wurde auch von diversen linken, antifaschistischen Seiten geteilt. Die Aufnahmen selbst zeigen eine große Gruppe von Menschen, die entlang der Straßenbahngleise laufen. Aus dem Off befiehlt eine Stimme: "Nicht aufteilen." Die Männer im Video brüllen: "Das ist unsere Stadt." Die Gruppe scheint sich von der Rathausstraße im Chemnitzer Zentrum Richtung Bahnhofstraße zu bewegen. Als die Gruppe die Bahnhofstraße erreicht, ist im Video zu sehen, wie sich einzelne Personen aus dem Pulk lösen und losstürmen. Einer brüllt "Zecken", eine von den Rechten genutzte Beleidigung für Linke. Eine Frauenstimme sagt: "Wie die rennen, die Zecken, das gibt's ja nicht." Urheber des Videos soll der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des AfD-Kreisverbandes Sächsische Schweiz-Osterzgebirge sein. Für eine Stellungnahme war er nicht zu erreichen.

Ein anderes Video zeigt ebenfalls den Weg durch die Innenstadt. Veröffentlicht hat es die fremdenfeindliche Bürgerinitiative "Roßwein wehrt sich", die Aufnahmen sind weiter auf deren Facebook-Seite abrufbar. Ein drittes, sehr kurzes Video zeigt eine besonders verstörende Szene. Zwei junge Männer mit schwarzen Haaren stehen auf der Straße. "Haut ab" und "Was ist denn, ihr Kanaken?", brüllen Personen aus der Gruppe. Aus dem Pulk heraus rennt ein Mann in schwarzer Kleidung auf die Männer zu. Als diese davonlaufen, tritt er nach ihnen. Dann bricht das Video ab.

Wie bedrohlich die Lage für Menschen mit Migrationshintergrund gewesen sein muss, zeigt ein Video, das der gebürtigen Libanesin Rola Saleh zuzuordnen ist. Sie lebt seit 17 Jahren in Chemnitz und engagiert sich als Sozialarbeiterin gegen Rechtsextremismus. Als Neonazis und Hooligans durch die Innenstadt ziehen, ist sie mittendrin. Ihre Schilderungen decken sich mit den anderen Videos, die aus dem Pulk heraus gefilmt wurden.

Es ist später Nachmittag, als Saleh sich bei McDonalds an der Ecke Rathausstraße etwas zu essen holt. Als sie aus dem Imbiss tritt, wälzt sich vor ihr der Zug der Rechtsextremen vorbei. "Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer", ruft jemand. Saleh beginnt zu filmen. Sie ruft immer wieder: "Rassisten!" Auf Videos der Rechtsextremen ist Salehs Stimme zu hören. Der Pulk kommt auf ihrer Höhe zum Stehen. "Halt dein Maul", brüllt eine Frauenstimme. "Verpisst euch", ruft ein Mann.

Dann ist in Salehs Video zu sehen, dass etwas die Kameralinse verdeckt. Die 40-Jährige erzählt, zwei Personen hätten sich aus der Menge gelöst, ein Mann habe sie abgedrängt: "Ich musste zurückweichen", sagt sie. Ob sie gestürzt ist oder jemand die Kamera zugehalten habe, weiß sie nicht. "Es ging alles so schnell." Sie weiß nur, dass ihr ein Polizist zu Hilfe kam. Saleh sagt, ein anderer Beamter habe ihr geraten wegzugehen, zu ihrer eigenen Sicherheit. Auf dem Handyvideo ist zu hören: "Wenn der Mob angreift."

Saleh folgte der Gruppe dennoch zur Bahnhofstraße, wo Rechtsextreme zwei Flüchtlingen nachsetzten. So zeigt es zumindest das keine zwanzig Sekunden lange Video, das im Netz kursiert. Nach eigenen Aussagen steht die Chemnitzerin da bereits auf der anderen Straßenseite. "Die beiden sind zufällig dort lang gelaufen und wurden dann angegriffen", sagt sie. Es habe weitere Angriffe gegeben. Ein junger Mann aus Eritrea habe ihr eine Verletzung an der Hand gezeigt, die von einer Bierflasche stammen soll.

Augenzeuge B. berichtet von einer weiteren Attacke auf Ausländer, die sich auf einem beliebten Chemnitzer Platz zugetragen haben soll: am Brunnen vor dem Roten Turm, in Sichtweite der Strecke, den der Demonstrationszug genommen hat. Dort soll gegen 17.15 Uhr eine Gruppe von bis zu zehn Deutschen auf meist junge Menschen mit Migrationshintergrund losgestürmt sein. Die Bedrängten rannten weg, ein junger Afghane wurde eingeholt. Mindestens einer der Angreifer schlug und trat ihn, so erzählt B. Polizisten seien eingeschritten. Eine SZ-Anfrage an die Behörden zu dem Vorfall blieb unbeantwortet.

Bei der Generalstaatsanwaltschaft in Dresden laufen nach den Ausschreitungen derzeit 120 Ermittlungsverfahren wegen verschiedener Delikte, unter anderem Körperverletzung, Beleidigung und Landfriedensbruch. Wie viele Fälle das insgesamt seien, konnte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein nicht mit Bestimmtheit sagen.

© SZ vom 08.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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