Proteste:Nicht mein Antirassismus

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Rassismus ist ein Verbrechen. Aber pauschale Kritik an allen "Weißen" ist nicht berechtigt. (Foto: Florian Peljak)

Die Debatte über Rassismus in Deutschland wird von einer Elite dominiert und ist geprägt von Wut. Die Probleme aber lassen sich so nicht lösen.

Gastbeitrag von Canan Topçu

Stimmt mit mir was nicht? Diese Frage beschäftigt mich ernsthaft. Meine Eltern stammen aus der Türkei. Und trotzdem stimme ich nicht überein mit jenen Menschen mit Migrationshintergrund, die sich neuerdings Persons of Color (POC) nennen und den angeblich allgegenwärtigen Rassismus in Deutschland beklagen, ihn bei jedem Deutschen wittern, der keine Person of Color ist. Ich weiß, wie sich Diskriminierung anfühlt. Ich müsste doch genauso denken, oder? Warum tue ich das nicht?

Doch mir bleiben die inflationären Rassismusdiagnosen fremd. Überspitzt formuliert lässt sich der Befund so beschreiben: Alle weißen Deutschen sind Rassisten, sie nehmen es mit der Muttermilch und der frühkindlichen Sozialisation auf, und merken das meist nicht einmal selbst. POC in Deutschland wiederum sind, gewissermaßen als kollektive Opfer, dem kollektiven Rassismus der weißen Deutschen ausgesetzt.

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Was rassistisch ist und was nicht, wollen die meist jungen Aktivistinnen und Autoren allein definieren - nach dem Motto "Jetzt reden wir und entscheiden selbst". Ja, es ist gut, wenn die Mehrheitsgesellschaft einmal still ist und den Geschichten zuhört, die Angehörige von Minderheiten zu erzählen haben, wenn Männer schweigen und hören, was Frauen als ausgrenzend, erniedrigend, abwertend erfahren. Inzwischen aber werden unüberschaubar viele Haltungen und Handlungen als "rassistisch" diagnostiziert, wird jedes Erlebnis von Ablehnung, Abweisung oder Kritik auf die Herkunft bezogen und aus der eigenen Diskriminierungserfahrung das Recht abgeleitet, Weißen bei diesem Thema Sprechverbote zu erteilen. So wird berechtigte Rassismuskritik instrumentalisiert.

Viele wissen viele nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen

So scharf wie sie derzeit geführt wird, wird die Rassismusdebatte nicht dazu beitragen, Ungerechtigkeiten zu verringern. Im Gegenteil: Sie verhärtet die Fronten, wie ich im Privaten wie im Beruflichen feststelle. Das unbefangene Miteinander wird schwieriger; aus Sorge, als Rassist angeprangert zu werden, wissen viele nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen, welche Themen sie ansprechen dürfen, und was sie besser nicht fragen sollten.

"Wo kommst du her?" Fremde Menschen, mit denen ich ins Gespräch komme, verkneifen sich inzwischen, mich das zu fragen, weil das auch als rassistisch gilt. Ich kläre aber gerne und auch schon mal ungefragt über meine Herkunft auf. Ich bin Tochter von türkischen Arbeitsmigranten, lebe seit meinem achten Lebensjahr in diesem Land, bin inzwischen 55 Jahre alt, und so lange ich mich erinnern kann, hat meine Herkunft eine Rolle gespielt. Mein Gefühl von Zugehörigkeit hängt nicht davon ab, ob andere sie mir zugestehen; die Frage nach der Herkunft empfinde ich daher nicht als ausgrenzend.

Das heißt nicht, dass ich keine Ausgrenzungen erlebt hätte; vieles war sehr anstrengend und belastend, wie ich rückblickend feststelle. Aber: Wäre es in der Türkei oder in einem anderen Land viel besser gewesen? Dass Menschen, sei es aufgrund unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft, sei es wegen anderer Lebensstile, als ungleich und ungleichwertig betrachtet werden, dass sie deswegen feindseligen Einstellungen und in einer weiteren Stufe leider auch psychischen und physischen Übergriffen ausgesetzt sind, ist kein deutsches Phänomen. Vorurteile gegenüber vermeintlich Fremden, Ausgrenzung und Feindschaft bis zu Gewalt gibt es leider überall.

Richtung und Tonalität der Rassismuskritik wird bestimmt von einer jungen akademisch gebildeten Generation, die einerseits darauf pocht, nicht auf Herkunft reduziert, sondern als "von hier" wahrgenommen zu werden, andererseits aber selbst Identitätspolitik betreibt - nicht nur durch die Selbstbeschreibung als People of Color, sondern auch im Zelebrieren von Elementen aus der Herkunftskultur. Politisch problematisch ist die moralische Überlegenheit, die aus der Betroffenheit abgeleitet wird, ohne selbst auf Ressentiments zu verzichten oder Ausgrenzung zu betreiben. " Eure Heimat ist unser Albtraum" heißt ein Essayband, der wichtige Autorinnen und Autoren der neuen Desintegrationsdebatte versammelt, wie Fatma Aydemir, Hengameh Yagoobifahrah oder Max Czollek.

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In Deutschland findet Ausgrenzung und auch Gewalt gegen Minderheiten statt, ja. Aber es ist ein freies und demokratisches Land, in den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten ist Rassismus verpönt, und Minderheiten werden vom Grundgesetz geschützt. Das soll ein Albtraum sein?

Manche Nachkommen von Arbeitsmigranten gerieren sich, als wären ihre Großeltern, ihre Eltern als Zwangsarbeiter hierhergeholt worden. Es war aber die ökonomische und soziale Not im Herkunftsland, die zum Verlassen der Heimat führte. Ich etwa bin dankbar dafür, dass meine Eltern nach Deutschland emigriert sind. In der Türkei hätten meine beiden Schwestern und ich nicht die Chancen gehabt, die wir hier bekommen haben.

Inzwischen habe ich aber den Eindruck, dass es verpönt ist, sich als POC mit diesem Land zu identifizieren und sich hier gut aufgehoben zu fühlen. Ich jedenfalls möchte in keinem anderen Land leben, weil ich davon überzeugt bin, dass hier das demokratische System noch am besten funktioniert, und ich eine Realistin bin. Eine Gesellschaft ohne Hierarchien, ein Land, in dem alles gut läuft, ist eine Utopie.

Es gab und gibt viel zu beanstanden

Damit kein Missverständnis entsteht: Es ist nicht alles super gelaufen mit den Angeboten zur Teilhabe. Es gab und gibt viel zu beanstanden an den Strukturen der Gesellschaft und an der Politik. Kritik ist berechtigt, aber Aggressivität ist nur bedingt hilfreich. Das Schlechtreden dieser Gesellschaft und das Bashen ganzer Berufsgruppen wie etwa Polizisten, das verächtliche Bezeichnen von autochthonen Deutschen als "Almans" oder als Kartoffeln, mag fürs Empowerment untereinander gut sein, es erzeugt aber keinen konstruktiven Diskurs. Kommunikation zwischen Menschen funktioniert bekanntlich viel besser, wenn man nicht schreit, anklagt und das Gegenüber mit Vorwürfen bombardiert; das macht dicht und auch für berechtigte Kritik unempfänglich.

Die Erfahrung sagt: Wut bietet kein gutes Instrumentarium für Veränderungsprozesse. Wut macht viel kaputt. So brandmarkt der allgemeine Rassismusvorwurf nicht einfach aktive Rassisten oder unbekümmerte Unsensible, sondern stößt auch all jene vor den Kopf, die guten Willens sind, aber die - oft elitären - Sprachcodes der neuen Antirassisten nicht kennen.

Wie selten in der Schule Migration als Teil der Weltgeschichte vorkommt, wie wenig Mechanismen von Diskriminierung und Rassismus erklärt werden, erfahre ich immer wieder in meinen Lehrveranstaltungen. Diversität mit all ihren Vorteilen und Herausforderungen ist eine Realität, die nicht ausreichend vermittelt wird, und die zu oft vor allem als Problem dargestellt wird. Das gilt es zu ändern, damit Ressentiment nicht die Verhältnisse bestimmt oder in Verbrechen mündet. Dafür müssen Menschen lernen, aus verschiedenen Perspektiven zu denken. So kann Wissen und Empathie gebildet werden. Nicht aber, in dem man einem großen Teil der Gesellschaft den Mund verbietet.

Canan Topçu ist Publizistin und lehrt an der Hochschule Darmstadt.

© SZ vom 25.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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