Prantls Blick:Deutschland - leicht entflammbar

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Eine beschriebene Häuserwand in Güstrow spielt auf die ausländerfeindlichen Krawall in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992 an. (Foto: dpa)

Vor 23 Jahren hat unser Autor ein Sachbuch geschrieben. Darin konstatierte er: Die deutsche Demokratie sei nur "bedingt abwehrbereit". Es sieht so aus, als habe sich das 2017 bestätigt.

Von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Innenpolitik der SZ, mit politischen Themen, die in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant sind. Hier können Sie "Prantls Blick" als wöchentlichen Newsletter bestellen - mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

Die evangelische Pfarrerin Silke Niemeyer aus Lüdinghausen begann dieser Tage eine kleine Predigt im Deutschlandfunk wie folgt: "Erntedank fällt in diesem Jahr aus." Sie wies darauf hin, dass die Bauern über eine schlechte Ernte klagen, dass gar von einem "Katastrophenjahr" die Rede sei - Frost in der Apfelblüte, Trockenheit im Frühjahr, Getreidepreise im Keller, kaum Kartoffeln.

Der ausfallende Erntedank war natürlich nur ein kleiner Predigerkniff, weil dieser Tag ja am 1. Oktober fix im Kalender steht. Und in den ländlichen Gegenden ist dieses Datum, traditionell ist es der erste Sonntag im Oktober, mit festem Brauchtum verwachsen; die Altäre sind dann prächtigst geschmückt, so dass der Tag neben dem Heiligabend zum Gottesdienstliebling geworden ist.

Gott zu danken, so meinte die Pfarrerin, sei angesichts dessen leicht, selbst dann, wenn man nicht mehr recht an ihn glaubt. Schwerer falle es vielen, den Bauern zu danken, die die Lebensmittel produziert haben. Das gewachsene ökologische Bewusstsein sei zwar großartig, habe aber eine Kehrseite: Bauern ernten mehr Prügel als Dank. Also bricht die wackere Pfarrerin eine Lanze für die Bauern - und wünscht sich, dass das ökologische Bewusstsein doch bitte auch das Verständnis dafür wecken solle, unter welchem Druck die Bauern in einer Wirtschaft stehen, die auf Kostensenkung und Gewinnvermehrung ausgerichtet ist.

Das ist eine schöne Predigt - und irgendwie passt sie nicht nur auf die Bauern, sondern auch auf die Politiker, für die der heutige Bundestagswahlsonntag die Zeit der Ernte ist. Es mag gut sein, dass viele Christ- und Sozialdemokraten nach dem heutigen Wahlsonntag ihre erste Stellungnahme zum Wahlausgang am liebsten so beginnen würden wie die Rundfunkpfarrerin ihre Predigt: "Erntedank fällt in diesem Jahr aus." Wofür sollen sie am Ende des Tages, nach Schließung der Wahllokale, danken? Dafür, dass die Wähler eine rassistische Partei in den Bundestag gewählt haben? Dafür, dass künftig neben den Christdemokraten, den Sozialdemokraten, den Freidemokraten, den Linken, den Grünen und den Nationalkonservativen, die es in der AfD durchaus gibt, nun auch Neonazis von der AfD auf den blauen Sesseln des Parlaments sitzen?

Sollen sich die Demokraten, nur insgeheim natürlich, trösten mit dem Sprichwort, dass eben die dümmsten Bauern die größten Kartoffeln ernten?

Es ist wirklich nicht ganz einfach in diesem Jahr mit dem politischen Erntedank. Es fügt sich jedenfalls, dass auf den Wahlsonntag ausgerechnet der Erntedank-Sonntag folgt. Der Zufall des Kalenders birgt Anlass zum Nachdenken.

Ein paar Tage vor der Bundestagswahl erreichte mich ein Brief einer Leserin aus Bottrop. Sie hatte in einem alten Buch von mir gelesen, genauer: im ersten politischen Sachbuch, das ich geschrieben habe. Das ist lange her, erschienen ist das Buch im Jahr 1994, vor der damaligen Bundestagswahl, es war die letzte, die Helmut Kohl gewonnen hat. Das Buch trug den Titel "Deutschland - leicht entflammbar" und es handelte unter anderem von der Schändung von KZ-Gedenkstätten und jüdischen Friedhöfen, es handelte von den Brandanschlägen auf Ausländerwohnungen und Flüchtlingsunterkünfte; die einschlägigen Zahlen waren stark gestiegen; das Buch handelte von einer Politik, die darauf mit der Einschränkung des Asylgrundrechts im Grundgesetz reagierte. Die Leserin meinte, dieses alte Buch mit den "Ermittlungen gegen die Bonner Politik" (so der Untertitel) lese sich doch "mit Zeitverschub" sehr aktuell.

Ich habe daraufhin selber nachgelesen: "Noch nie in der Nachkriegsgeschichte sind", so heißt es da, "Nazis und Neonazis so dreist, so schamlos und gewalttätig aufgetreten. Sie taten sich leicht, weil die Staatsgewalten abgetaucht waren. Deutschland pubertiert gewalttätig. Seit der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR sind seine Nerven labil, seine Stimmungen unausgeglichen. Es gärt und es brodelt in seinem Inneren. Reife ist nicht in Sicht." Von der Entstigmatisierung rechtsextremer Ideologie ist die Rede.

"Deutschland, leicht entflammbar. Ermittlungen gegen die Bonner Politik". Die Leserin aus Bottrop fragte mich also, wie denn nun, 23 Jahre später, mein Fazit heute aussähe. Ja, wie? Aus der "Bonner Politik" ist die "Berliner Politik" geworden. Und wie verhält es sich mit der Entflammbarkeit? Hat die sich nun, mit Pegida und den Erfolgen der AfD, politisch realisiert?

Gewalt beginnt mit Worten: In dem Buch von 1994 habe ich berichtet, wie seinerzeit der Staat auf widerliche Hetzgedichte gegen Ausländer und Asylbewerber reagiert hat. Anzeigen wegen Volksverhetzung wurden abgewimmelt. Rufe wie "Ausländer raus" und "Deutschland den Deutschen" seien zwar gegen das Bleiberecht eines Ausländers gerichtet und damit im weiteren Sinne diskriminierend und ausländerfeindlich, "nicht aber gegen ihr Lebensrecht in der Gemeinschaft und damit gegen den Persönlichkeitskern eines Ausländers". Mit diesem Wortgeklingel aus dem juristischen Subsumtionsautomaten hat die Staatsanwaltschaft Rostock seinerzeit, nach den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen, einschlägige Strafverfahren eingestellt. Ähnliche Abwimmeleien kann man heute, in Internet-Zeiten, lesen; sie sind nicht mehr so ausführlich, sie sind routinierter.

In einem bayerischen Polizeipräsidium kursierte damals ein Flugblatt, das von einem Polizeibeamten fleißig kopiert wurde. Es handelte sich um ein Sammelsurium von Vorurteilen und Gemeinheiten mit dem Titel: "Der Asylbetrüger in Deutschland". Das Gedicht begann so: "Herr Asylbetrüger, na wie geht's? Oh, ganz gut, bring Deutschen Aids; komm direkt aus Übersee - hab Rauschgift mit, so weiß wie Schnee; verteil im Sommer wie im Winter, sehr viel davon an deutsche Kinder." Der Polizeibeamte hielt das, wie er sagte, für lustig; und das Bayerische Oberste Landesgericht, das es damals noch gab, hielt das jedenfalls nicht für strafbar. In Köln, wo ein Mitglied der Rechtsaußen-Partei "Die Republikaner" das Gedicht auch verbreitet hatte, sprach das Landgericht einen Angeklagten frei, der das Pamphlet auch verteilt hatte. Es handele sich, sagten die Richter damals, nur um eine "geschmacklose Übertreibung".

Ich habe damals, 1994, konstatiert, die deutsche Demokratie sei nur "bedingt abwehrbereit". Der deutsche Staat präsentiere sich gegen die Rechtsextremisten klein und schwach. Es sieht so aus, als habe sich das nun, im Jahr 2017, bestätigt.

"Vertritt man deutsche Interessen, wird man von der Weltmacht Medien als Rechtsextremist herabgesetzt und regelrecht fertig gemacht", klagte ein Brief von damals. Und in einem offen mit Absendernamen und Adresse versehenen Brief an die Süddeutsche Zeitung hieß es über Journalisten und Politiker, die sich für Flüchtlinge einsetzen: "Wer solche Mistkerle, solche Vaterlandsverräter, umlegt, müsste eine Abschussprämie bekommen." Die Polizei reagierte auf so etwas gelassen, auch auf Morddrohungen mit avisiertem Todesdatum: "Sie glauben gar nicht, wie häufig das mittlerweile ist".

Wie häufig?

Das Internet hat die Häufigkeiten von damals noch potenziert. Das Netz funktioniert wie ein Durchlauferhitzer für Gemeinheiten. Das ist einer der Unterschiede zwischen 1994 und 2017. Es gibt das Netz und seine Tücken. Ich wünsche mir, dass das Netz in den kommenden Monaten wie ein Durchlauferhitzer für die Gegenwehr funktioniert, dass sich dort der Aufstand der Demokraten gegen die Neonazis und ihre Gemeinheiten zeigt.

Am Mittwochnachmittag wird in seinem Heimatort Gleisweiler an der Weinstraße Heiner Geißler beerdigt. Ihm würde so ein Sturm der Aufklärung im Netz gefallen. In einem Lebensrückblick hatte er auf die Frage, ob er etwas bedauere, eine überraschende Antwort parat: " Ich hätte manchmal noch mehr Krach schlagen müssen." Es gilt, den demokratischen und sozialen Rechtsstaat, es gilt, die Grundrechte glaubwürdig und überzeugend zu verteidigen und hochzuhalten - und wenn es sein muss, zu diesem Zweck auch Krach zu schlagen. Fürchten wir uns davor nicht.

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