Ausbreitung der Delta-Mutante:Portugal öffnet sich für Touristen, obwohl die Zahlen steigen

Lesezeit: 3 min

Am Wochenende riegelte die Regierung die Hauptstadt Lissabon ab, um die weitere Ausbreitung der Delta-Variante zu bremsen. Innerhalb der Metropolregion konnte man sich aber frei bewegen. (Foto: Pedro Fiuza/imago)

Möglicherweise haben Urlauber die Delta-Variante ins Land gebracht. Dennoch will Portugals Regierung keine Einschränkungen für Reisende und riegelt stattdessen die Hauptstadt Lissabon ab.

Von Karin Janker, Madrid

Die Zeit der Entspannung war kurz - und offenbar folgenschwer. Erst vor wenigen Wochen hatte Portugal begonnen, sich zu öffnen. Nach dem Kollaps des Gesundheitssystems im Februar schöpfte man Hoffnung, dass die Urlaubssaison zu retten wäre und damit die Tourismusbranche, von der etwa zwölf Prozent des portugiesischen Bruttoinlandsprodukts abhängen. Also ging man Schritte, die mutig waren, aber nicht waghalsig. Der plano de desconfinamento koppelte jede Lockerung an Inzidenz und R-Wert, so wollte man die Verbreitungsdynamik im Blick behalten. Allerdings rechnete wohl niemand damit, dass eine neue Virus-Variante diese Überlegungen zunichte machen würde.

Zunächst schien der Plan aufzugehen, die Inzidenz blieb in Portugal über Wochen so niedrig wie kaum irgendwo sonst in Europa. Bald kehrten auch die Urlauber zurück. Zaghaft noch, doch schon hörte man wieder Englisch, Deutsch, Französisch unter den lilablauen Blüten der Jacaranda-Bäume im Zentrum Lissabons. Doch womöglich brachten die Touristen nicht nur Erholung für die Reisebranche, sondern auch das Virus mit. Nach Pfingsten kam die Trendwende: Seither geht die Kurve in Portugal nach oben, während sie im Rest der EU immer weiter gesunken ist.

Der Großraum Lissabon führt die steigende Kurve an. Bereits Ende Mai stammte die Hälfte der gemeldeten Infektionen aus der Hauptstadtregion, obwohl dort nur gut ein Viertel der Bewohner des Landes lebt. Dieser Trend hat sich verschärft. Inzwischen entfallen 75 Prozent der Corona-Neuinfektionen auf Lissabon und das Umland. Portugals Regierung hat gehandelt und an diesem Wochenende die Hauptstadtregion abgeriegelt. Von Freitagnachmittag bis Montagmorgen durften die Bewohner den Großraum nur in Ausnahmefällen verlassen.

Regierung handelte aus Sorge um die Gesundheit des Einzelnen

Mit dieser Maßnahme wolle man verhindern, dass die Infektionen aus der Hauptstadt auf den Rest des Landes übergreifen, sagte Regierungschef António Costa. Eine Ausgangssperre war die Maßnahme nicht, denn innerhalb der Metropolregion konnten sich die Bewohner frei bewegen. Auch ausländische Touristen waren von der Abriegelung ausgenommen. Fraglich ist daher, was die Abriegelung überhaupt bewirkt.

Costa schloss nicht aus, dass sie an den kommenden Wochenenden wiederholt werde. Die Regierung fürchtet die Risiken der in Indien entdeckten Delta-Variante: Diese mache nach Einschätzung des nationalen Gesundheitsdienstes INSA bereits 60 Prozent aller Neuinfektionen in Lissabon aus. Zum Vergleich: In Deutschland lag der Anteil der Delta-Variante laut Robert-Koch-Institut zuletzt bei sechs Prozent. Das RKI geht davon aus, dass Infektionen mit dieser Virusmutante zu schwereren Krankheitsverläufen führen könnten.

Gegenüber der Zeitung Público gab Portugals Gesundheitsministerin Marta Temido zu, dass nicht der Druck aufs öffentliche Gesundheitssystem die Politik zum Handeln gebracht habe, sondern vielmehr die Sorge um die Gesundheit des Einzelnen, da über die langfristigen Folgen der Krankheit noch wenig bekannt sei. Ist das Grund genug, die 2,9 Millionen Bewohner der Hauptstadtregion in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken? Juristen meldeten bereits Zweifel an.

Experten empfehlen Änderung des Impfschemas

Gesundheitsexperten des Landes diskutieren derweil, wie mit der Virusvariante am besten umzugehen ist. Da vor allem Menschen unter 50 Jahren zu den Infizierten gehören, die noch keine oder erst eine Impfdosis erhalten haben, fordern immer mehr Experten eine Änderung der Impfstrategie. Bislang liegt die Impfquote Portugals im europäischen Mittel: Etwa ein Viertel der portugiesischen Bevölkerung hat zwei Impfdosen erhalten, knapp 50 Prozent sind einmal geimpft. Um der aktuellen Lage zu begegnen, ruft die Regierung ab diesem Montag alle über 35-Jährigen dazu auf, sich für eine Impfung anzumelden.

Dem Lungenfacharzt António Diniz, Mitglied im Covid-19-Krisenkabinett, geht diese Erweiterung des Impfangebots nicht weit genug. Er sieht von den Neuansteckungen vor allem Menschen betroffen, die sowohl jünger und mobiler sind als auch "anfälliger für Pandemie-Müdigkeit". Diese müssten so bald wie möglich geimpft werden. Außerdem empfiehlt Diniz, das Impfschema zu ändern, um Zeit zu gewinnen: Menschen, die bereits eine Dosis des Astra-Zeneca-Impfstoffs erhalten haben, sollten schon nach vier Wochen eine zweite Dosis eines mRNA-Impfstoffs bekommen statt erst nach drei Monaten die zweite Dosis Astra Zeneca, so Diniz gegenüber der Nachrichtenagentur Lusa.

Über die Ursache der raschen Zunahme der Delta-Variante in Portugal rätseln die Experten im Land. Diskutiert wird, ob sie womöglich durch asiatische Erntehelfer hereingebracht wurde oder durch Urlauber aus Großbritannien. Eines machte die Regierung dennoch deutlich: Sie denke derzeit nicht darüber nach, den Tourismus einzuschränken.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: