Squirrel Hill heißt die Nachbarschaft in Pittsburgh, in der die Synagoge der "Tree of Life"-Gemeinde steht. Squirrel Hill, Hügel der Eichhörnchen. Das Viertel ist das Herz des jüdischen Pittsburgh, es gibt koschere Restaurants und Bäckereien, und viel Grün. Alvin Berkun fühlte sich hier immer wohl - und geschützt: "Die beiden sichersten Gegenden, die ich kenne, sind Squirrel Hill und Jerusalem", erzählte der emeritierte Rabbi der New York Times. Berkun hielt früher selbst Gottesdienste in der "Tree of Life"-Synagoge ab. An jenem Ort, der an diesem Samstag zum Schauplatz des jüngsten Mass Shooting in den USA wurde.
Elf Menschen starben und sechs weitere wurden verletzt, als kurz nach Beginn des Sabbat-Gottesdienstes am Samstagmorgen ein Mann in die Synagoge stürmte und das Feuer eröffnete. Das Gotteshaus - ein beiger Betonbau, der fast einen ganzen Straßenblock einnimmt - fasst bis zu 1450 Besucher. Der Täter war mit einem Sturmgewehr des Typs AR-15 und mindestens drei Pistolen bewaffnet. Der Vorfall in Pittsburgh ist Daten des Gun-Violence-Archivs zufolge das 294. Mass Shooting in diesem Jahr - es ist, ähnlich wie das Schulmassaker in Parkland in diesem Frühjahr, eine Gewalttat, die auf traurige Weise heraussticht aus einer ohnehin deprimierenden Statistik.
Attentat in Pittsburgh:Mutmaßlicher Schütze soll seine Tat angekündigt haben
Der Mann, der in einem jüdischen Gotteshaus elf Menschen erschoss, soll in einem rechten Internetportal Hasskommentare verbreitet haben. Er wurde festgenommen.
Denn bereits kurz nach der Tat bestätigte sich, was zu befürchten war: Der Täter, der sich nach einem Feuergefecht mit der Polizei ergab, hatte die Synagoge gezielt attackiert. Die Behörden identifizierten ihn als den 46 Jahre alten Robert Bowers. Zeugen zufolge brüllte er anti-jüdische Beschimpfungen, bevor er zu schießen begann. Bowers unterhielt nach Berichten von US-Medien einen Account im sozialen Netzwerk Gab. Der Dienst wirbt mit dem Slogan "Speak Freely" und ist populär bei White Supremacists und Anhängern der Ultrarechten. Zu den ersten Mitgliedern gehörten der frühere Breitbart-Autor Milo Yiannopoulos und Andrew Anglin, Gründer der Neonazi-Webseite Daily Stormer.
"Ich pfeife auf eure Ansichten, ich gehe rein"
Bowers' persönliches Profil, das mittlerweile gelöscht worden ist, war voll mit rechten Symbolen und antisemitischen Beiträgen. In seiner Kurz-Biografie schrieb er: "Juden sind die Kinder des Satans." Hier postete er am Samstagmorgen eine letzte Botschaft: "HIAS bringt Eindringlinge in unser Land, die unsere Leute töten. Ich kann nicht einfach daneben sitzen und zugucken, wie meine Landsleute abgeschlachtet werden. Ich pfeife auf eure Ansichten, ich gehe rein." HIAS ist die Abkürzung für die Hebrew Immigrant Aid Society - eine Hilfsorganisation, die jüdische Einwanderer dabei unterstützt, sich in Amerika ein neues Leben aufzubauen.
Kurz nach seinem letzten hasserfüllten Gruß am Samstag zog Bowers los und zerstörte elf Menschenleben. Die Anti-Defamation League (ADL), die gegen die Diskriminierung und Diffamierung von Juden in Amerika eintritt, spricht von der "wahrscheinlich tödlichsten Attacke auf die jüdische Gemeinde in der Geschichte der Vereinigten Staaten".
In der "Tree of Life"-Synagoge sind am Samstag nicht nur Menschenleben zerstört worden. Für viele amerikanische Juden dürfte das Vertrauen, in diesem Land in Sicherheit leben zu können, zumindest stark beschädigt worden sein. In den USA gibt es zwischen 4,2 und 6,7 Millionen Juden, je nachdem, ob man eine religiöse oder eine weiter gefasste, kulturelle Definition von Jüdischsein anlegt. Viele kamen einst auf der Flucht vor dem Holocaust, heute ist Amerika die größte jüdische Enklave der Welt. Doch das Gefühl des Willkommenseins und Akzeptiertseins ist brüchig geworden in den vergangenen zwei Jahren.
Die zuständigen Ermittlungsbehörden stufen das Massaker in der Synagoge als Hate Crime ein, also als Verbrechen aus Hass. Der Staatsanwalt hat Anklage in 29 Punkten erhoben. Mehrere Ermittler zeigten sich schockiert über die Brutalität der Tat. Pittsburghs Direktor für öffentliche Sicherheit, Wendell Hissrich, sagte Reportern, der Tatort gehöre zu den schlimmsten, die er jemals gesehen habe. "Und ich habe Absturzstellen von Flugzeugen gesehen."
Schon einmal hat Amerika in dieser Woche darüber diskutiert, inwieweit das aufgeheizte politische Klima und die hetzerische Rhetorik, die aus dem Weißen Haus dringt, politischer Gewalt den Nährboden bereiten. Da ging es um die Briefbomben, die ein fanatischer Trump-Anhänger an Politiker und prominente Unterstützer der Demokraten und den TV-Sender CNN geschickt hatte. Nach dem Mass Shooting in Pittsburgh könnte diese Debatte eine neue Dringlichkeit bekommen.
Trump hat es den Robert Bowers in Amerika gemütlich gemacht
Zwar steht Donald Trump nicht im Verdacht ein Antisemit zu sein, im Gegenteil, er gilt als ausgewiesener Freund Israels. Die Attacke in Pittsburgh verurteilte er am Samstag aufs Schärfste: Der Angriff sei "einfach nur böse", sagte er bei einer Wahlkampfveranstaltung in Indianapolis. Das "abscheuliche, hasserfüllte Gift des Antisemitismus" müsse genauso zurückgewiesen werden wie jedes andere Vorurteil. Doch mit Donald Trump sitzt eben auch ein Mann im Weißen Haus, der Rechte aller Couleur hofiert: Rassisten, Islamfeinde, White Supremacists. Der, als im vergangenen Jahr Neonazis mit Hakenkreuz-Flaggen durch Charlottesville liefen, verharmloste statt zu verurteilen. Der Präsident muss sich zumindest vorwerfen lassen, es den Robert Bowers in Amerika sehr gemütlich gemacht zu haben.
Trump kündigte einen Besuch in Pittsburgh an. Das US-Justizministerium teilte mit, es strebe die Todesstrafe für den Täter an. Er solle wegen antisemitisch motivierter Verbrechen angeklagt werden.
Für Amerikas Juden bleibt der 27. Oktober ein Tag des Schmerzes und der Trauer. Doch es gab Vorzeichen: Im vergangenen Jahr stieg die Zahl antisemitischer Übergriffe in den USA um 57 Prozent. Das ist der höchste Anstieg, seitdem die ADL diese Daten erhebt. "Ich traue mich kaum zu sagen, dass wir möglicherweise am Anfang dessen stehen, was in Europa passiert ist", zitiert die New York Times den Rabbi Marvin Hier, Gründer des Simon Wiesenthal Centers. Er hatte bei Trumps Amtseinführung ein Gebet gesprochen. Jetzt sagte er der Zeitung: "Ich fürchte, das Schlimmste kommt noch."