Philosoph Otfried Höffe:"Merkel mangelt es oft wohl an Courage"

Lesezeit: 6 min

Hat Präsident Gauck recht, muss die Kanzlerin die Euro-Rettung besser erklären? Ja, sagt der Philosoph Otfried Höffe. Wer in seinen Visionen die Probleme unterschlage, betrüge den Bürger.

Oliver Das Gupta

Otfried Höffe, Jahrgang 1943, ist Philosoph. Der Tübinger Professor publizierte unter anderem zu Aristoteles, Thomas Hobbes und Immanuel Kant. Er ist Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen.

Dämonisiert: Kanzlerin Angela Merkel wird wegen ihrer Euro-Politik in Griechenland in Nazi-Nähe gerückt. Dieses Foto wurde in Athen aufgenommen. (Foto: REUTERS)

Süddeutsche.de: Herr Höffe, der Bundespräsident fordert von der Kanzlerin, ihr Euro-Krisenmanagement besser zu erklären. Hat Joachim Gauck recht mit seiner Kritik?

Otfried Höffe: Recht hat er. Die Regierenden können sich nicht darauf berufen, dass Politik zu facettenreich und komplex sei, um sie zu erklären. Denn diese beiden Punkte spielen momentan nicht die entscheidende Rolle.

Süddeutsche.de: Um was geht es dann?

Höffe: Das, was bei den Bürgern vorherrscht, sind Unsicherheit, Sorgen und gelegentlich auch Ärger. Sie merken, dass kommunale Leistungen gestrichen werden und auf der anderen Seite gewaltige Summen bewegt werden. Und das angeblich, um die Risiken für den Bürger, seine Kinder und Kindeskinder zu minimieren. Dieses muss zuerst glaubhaft und sodann weit besser erklärt werden.

Süddeutsche.de: Aber wie soll Angela Merkel das machen?

Höffe: Bei aller Wertschätzung für die Kanzlerin: Sie hat bislang versäumt, über ihren Kurs, der ja die Position Deutschlands ist, klar zu informieren und ihn sowohl verständlich, als auch nachvollziehbar zu machen.

Süddeutsche.de: Ein Beispiel, bitte.

Höffe: Ministerpräsident Mario Monti fordert von Berlin Respekt für Italien, in Griechenland wird Merkel in Nazi-Nähe gerückt. Dabei sind beide Länder Bittsteller und müssten heilfroh sein, dass Deutschland ihnen hilft. Verunglimpfungen dürfen nicht kommentarlos übergangen werden. Wenn man auf europäischer Ebene inakzeptabel behandelt wird, fördert das nicht gerade das Verständnis und die Empathie der Bürger. Merkel sollte sich gegen solche Verzerrungen der Realität wehren und persönliche Angriffe deutlich zurückweisen.

Süddeutsche.de: Dagegenhalten könnte als nationalistischer Unterton missverstanden werden.

Höffe: Ich halte das Risiko für gering. Trotz der beschämenden NSU-Verbrechen dürfte die Gefahr nationalistischer Aufwallungen nirgendwo geringer als in Deutschland sein. Es ist legitim, dass die von den Deutschen gewählte Regierungschefin deutsche Interessen vertritt. Wir halten es doch für selbstverständlich, dass die Italiener für Italien, die Polen für Polen und die Franzosen für Frankreich sich einsetzen, hoffentlich immer auch mit einer europäischen Perspektive.

Süddeutsche.de: Die europäische Identität ist bei den Europäern wenig ausgeprägt. Wie kann es die Politik erreichen, dass wir uns europäischer fühlen?

Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juni 2012 (Foto: AP)

Höffe: Ich sehe das nicht so skeptisch. Auf Reisen und im Beruf, in Wissenschaft und Kultur agieren wir inzwischen schon sehr europäisch. Vieles ist so selbstverständlich geworden, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Die europäische Idee ist nur in wenigen spezifischen Bereichen bedroht: Hochproblematisch wird es etwa, wenn im ökonomischen und finanziellen Bereich Rechtspositionen untergraben werden. Für die Bürger, die ein Rechtsstaatsbewusstsein empfinden, ist das schwer zu ertragen. Sie fragen zu Recht: Gehört das denn zum Kernbestand Europas? Die Antwort lautet: Nein. Zur Basis Europas gehören Wechselseitigkeit und gegenseitige Ehrlichkeit.

Süddeutsche.de: Sie spielen damit auf das Verhalten der griechischen Regierungen an, die jahrelang ihr finanzielles Gebaren vertuschten und falsche Zahlen nach Brüssel meldeten.

Höffe: So ist es. Die Bürger regen sich zu Recht auf über Politiker, die bei Reisekosten tricksen. Aber in der Causa Griechenland geht es um weit mehr: Erstens, um Eintrittsbedingungen und zweitens, um schier unvorstellbare Summen. Der Vertrauensbruch Athens hat das Vertrauen in Europa elementar beschädigt, da die Politiker ihn nicht einmal offen benannt, geschweige denn verurteilt haben.

Süddeutsche.de: Was kommt davon beim Bürger an?

Höffe: Der Bürger macht sich vielleicht nicht so viele Gedanken darüber, aber unbewusst bleibt hängen, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Während von ihm Steuerehrlichkeit verlangt wird, kann man auf größerer Ebene lügen und betrügen und gewinnt am Ende sogar dabei.

Süddeutsche.de: In Griechenland hat die "politische Klasse" das Finanzdesaster verursacht, nicht der einfache Bürger auf der Straße, der das nun ausbaden muss. Ist eine Verallgemeinerung zulässig?

Höffe: Differenzierung ist wichtig, aber trotzdem kann man in diesem Fall von "den Griechen" sprechen. Schließlich haben die griechischen Bürger in demokratischen Wahlen ihre Regierungen bestimmt. Dabei war es ja kein Geheimnis, wie die Regierenden agieren, und das hat abgefärbt: Brav Steuern zu zahlen, galt als töricht. Diese Haltung darf, muss sogar angeprangert werden.

Süddeutsche.de: All diese Informationen sind frei im Internet zugänglich. Gibt es neben einer Bringschuld der Politiker, sich zu erklären, nicht auch eine Holschuld der Bürger, sich zu informieren?

Höffe: Es besteht beides, aber zuerst eine Bringschuld der Politiker, diese darf sich nicht nur im Internet zeigen, sondern muss in Zeitungen, Radio und vor allem Fernsehen geleistet werden. Denn von den Bürgern wird ja etwas verlangt. Im Bundestag sind erstaunlicherweise alle Fraktionen - bis auf die Linke - einer Meinung. Wo bleibt ernsthafte Opposition?

Süddeutsche.de: Warum hakt es an der klaren Rede bei Merkel & Co.?

Höffe: Es mangelt wohl oft schlichtweg an Courage. Politiker fast aller Parteien haben Angst, als Anti-Europäer und dann als Nationalisten zu gelten, sobald sie sich skeptisch oder kritisch äußern. Das ist ein Etikett, das niemand mag, dabei ist es hier unbegründet. Glücklicherweise bringt Herr Gauck eine derartige Courage auf.

Süddeutsche.de: Das bedeutet: Glaubwürdigkeit erfordert Mut?

Höffe: Ohne ein Minimum an Mut geht es nicht. Man kann ein überzeugter Europäer und ein deutscher Patriot sein und gleichzeitig Rettungspakete kritisieren oder verteidigen - wenn man couragiert agiert und offen argumentiert. Nur so lassen sich die Bürger überzeugen.

Süddeutsche.de: Bei komplexen Fragen scheinen viele Parlamentarier auch nicht mehr zu verstehen als viele Bürger.

Höffe: Ich sehe eine Bringschuld der Regierung ebenso gegenüber den Abgeordneten. Die Exekutive muss schlüssig, couragiert und überzeugend erklären: Wir brauchen keine Angst zu haben, denn die Risiken halten sich in überschaubaren und vertretbaren Grenzen - wenn es denn stimmt.

Süddeutsche.de: Wäre es ratsam, gerade jetzt in der Krise zu formulieren, wie Europa in Zukunft aussehen soll?

Höffe: Visionen gehören in die Politik. Ohne sie geschieht wenig.

Süddeutsche.de: Gilt das auch für einen großen Wurf, eine Vision der "Vereinigten Staaten von Europa"?

Höffe: Warum nicht? Eine Vision sollte relativ offen bleiben, aber doch schon präziser werden.

Süddeutsche.de: Was bedeutet das in diesem konkreten Fall?

Höffe: Wer von den "Vereinigten Staaten von Europa" spricht, muss sich gleichzeitig leichtfertig nennen lassen, wenn er nicht auch Schwierigkeiten benennt: Sie beginnen mit der Vielsprachigkeit und reichen über gravierende Mentalitätsunterschiede bis zu einem Recht auf Differenz. Und nur, wer vor der Wirklichkeit die Augen schließt, übersieht, dass bei Kooperation, Integration, bei Rechtsstaatlichkeit und Ökonomie manche Länder weiter als andere sind. Daher ist es nicht bedrohlich, im Gegenteil: wünschenswert und zugleich geboten, dass sich Europa mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten entwickelt. Wer nicht nur ein Schlagwort, sondern eine veritable Vision formuliert und auch den Weg dorthin skizziert, findet eher Anklang.

Süddeutsche.de: Das bedeutet, dass man die Bürger nicht mit der vollen Wahrheit verschonen darf?

Höffe: Wenn man bei einer Vision die Schwierigkeiten unterschlägt, ist das - hart gesagt - Betrug an den Bürgern. Dann wird man Enttäuschung ernten. Im Kleineren ist das erkennbar bei Stuttgart 21 ebenso wie beim Flughafen Berlin/Brandenburg oder den Stromtrassen, die als Element der Energiewende durch Deutschland gebaut werden müssen. Keine Partei hat das Recht, für sich die Schokoladenseite zu reklamieren, und den anderen die Aufgabe aufzubürden, auf die Schwierigkeiten und sowohl auf die finanziellen, als auch die sozialen, nicht zuletzt die ästhetischen Kosten hinzuweisen. Neben den Rechten müssen die Pflichten erwähnt werden, neben Wünschen auch die Opfer, die zu bringen sind.

Süddeutsche.de: Altkanzler Helmut Schmidt hat unlängst mehr "Opferbereitschaft" in der Krise eingefordert. Ist es hilfreich, pathetisch zu werden?

Höffe: Pathos gehört auch in die Politik. Das hat etwas mit Leidenschaft zu tun und ohne leidenschaftliche Antriebskräfte bewegt sich wenig. Beim Stichwort "Opferbereitschaft" besteht allerdings die Gefahr, dass die Opfer nur primär die eine Seite zu erbringen hat, während die andere Seite die Hilfe genießt. "Europäische Solidarität" darf nicht zum Feigenblatt für einseitige Hilfe degenerieren.

Süddeutsche.de: Angela Merkel neigt nicht gerade zum Pathos, sondern bedient sich eher einer wolkigen oder technokratischen Sprache. Sollte die Kanzlerin eher wie der Präsident reden, der ja gerne im Pathos schwelgt?

Höffe: Zunächst einmal erscheint es als eine glückliche Arbeitsteilung: Herr Gauck trägt nicht Regierungsverantwortung, er kann entsprechend leidenschaftliche Reden halten. Frau Merkel redet nüchtern und vorsichtig, weil jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird und tatsächlich auf Finanzmärkte auswirken kann. Aber sie täte gut daran, allen verständlich zu machen, was sie eigentlich sagen will: 'Mir kommt es auf eine möglichst gute Politik für Deutschland an, die sich in eine gute Europa-Politik integriert, so dass wir unser Land und die EU sachgerecht aus dieser großen Krise manövrieren. Obwohl es um viel Geld geht, brauchen sich die Bürger weder um ihr Erspartes, noch um ihre anderen Interessen zu sorgen. Wegen der nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch komplizierten Situation kann ich nicht immer alles offen aussprechen. Aber Ihr Bürger könnt Euch auf uns als Volksvertreter - sowohl auf das Regierungslager, als auch auf die rot-grüne Opposition - verlassen. Und es täuscht, dass ich mich von den anderen Regierungen in kleinen Schritten über den Tisch ziehen lasse.' Diese Grundbotschaft kommt aber beim Bürger bislang nicht an. Daher vermutet er, dass es um seine Interessen und die Interessen Deutschlands wohl doch nicht so gut bestellt ist. Jedenfalls müsste eine Kanzlerin die einfache und zugleich verständliche Rede beherrschen.

Süddeutsche.de: Kann sie das lernen?

Höffe: Dass sie es kann, zeigt sie, wie ich selbst erlebt habe, in kleinerem Rahmen. Da tritt sie auch rhetorisch durchaus engagiert und überzeugend, sogar witzig und humorvoll auf.

© Süddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: