Nun wehen wieder Deutschlandfahnen, gehisst in Vorgärten, beim Public Viewing, auf T-Shirts gedruckt getragen, auf Wangen gemalt, Autos sind mit Fähnchen und schwarz-rot-goldenen Außenspiegelhüllen geschmückt.
Seit 2006, als Deutschland zur Fußballweltmeisterschaft der Männer eingeladen hatte und die Gäste zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges mit einem Meer aus Deutschlandfahnen, -flaggen und -bannern begrüßt wurden, gelten sie als Ausdruck eines neuen, harmlosen und weltoffenen Patriotismus.
Wofür sie nicht stehen sollen, ist dagegen Nationalismus. So hieß es jedenfalls damals im Abschlussbericht der Bundesregierung zur WM, und so hieß es noch jedes Mal, wenn bei sportlichen Großereignissen allerorts die nationalen Insignien präsentiert wurden. Alles nur Party-Patriotismus und ein angemessener Stolz aufs Vaterland - so die Überzeugung vieler Politiker.
Selbst für den Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, hat sich 2006 "das Verhältnis zur deutschen Fahne bei Fußballspielen der Nationalmannschaft entkrampft". Sie sei ein Symbol für Fans einer ethnisch vielfältigen deutschen Nationalmannschaft gewesen und "für ein einladendes, freundliches, tolerantes Land, das Respekt und Anerkennung lebt". Journalisten im In- und Ausland betonten damals, die Deutschen hätten endlich ein "unverkrampftes Verhältnis" zu ihrem Vaterland entwickelt. Inzwischen wird mancherorts sogar die Forderung laut, möglichst oft - nicht nur zur WM - Flagge zu zeigen.
Doch nicht alle sind davon überzeugt. Insbesondere die Grüne Jugend ruft immer wieder dazu auf, auf die Fahnen zu verzichten. Dafür wurden die jungen Leute allerdings auch jedes Mal heftig angefeindet.
Vor sechs Jahren hatte die SZ bei einer Reihe von Sozialwissenschaftlern und Psychologen nachgefragt, was es tatsächlich mit dem Verhältnis von Patriotismus, Nationalismus und der neuen Begeisterung für Deutschlandfahnen auf sich hat. Die Antworten waren durchweg kritisch. Hat sich die Einschätzung der Experten inzwischen geändert?
Eine Nachfrage zeigt: Alles, was sie damals gesagt haben, unterschreiben die Fachleute heute immer noch. Die Verhältnisse in der Welt und auch in Deutschland allerdings haben sich seitdem geändert. Zunehmende nationalistische Tendenzen etwa in Ungarn, Polen, Österreich, Frankreich, Großbritannien und den USA bereiten vielen Menschen Sorgen. In Deutschland haben inzwischen Pegida-Demonstranten und die rechtsnationale AfD die Deutschlandfahnen für sich vereinnahmt. Die deutschen Medien dagegen zeigen sich dem Fahnenmeer gegenüber "heutzutage sehr viel kritischer", sagt die Berliner Sozialwissenschaftlerin Dagmar Schediwy.
Was ist Patriotismus?
Grundsätzlich gilt nach wie vor: Der Begriff Patriotismus wird von vielen Menschen falsch verwendet. "Der Kern des Patriotismus ist, genau wie beim Nationalismus, die Identifikation mit seinem Land", sagt Wilhelm Heitmeyer, ehemals Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. "Der Patriot ist außerdem stolz auf die Demokratie und auf die sozialen Errungenschaften in seinem Land, ohne dass er das mit anderen Ländern vergleicht. Der Nationalist dagegen vergleicht sein Land immer mit anderen Nationen. Er ist stolz, Deutscher zu sein, und er ist stolz auf die deutsche Geschichte."
AfD-Demonstration vor dem Brandenburger Tor in Berlin im Mai 2018.
(Foto: AFP)Wissenschaftlern um Ulrich Wagner und Julia Becker von der Universität Marburg ist es vor einigen Jahren gelungen, empirisch zu belegen, dass sich diese Konzepte tatsächlich trennen lassen. Und was noch wichtiger ist: Sie konnten darüber hinaus zeigen, dass Nationalismus tatsächlich einhergeht mit Fremdenfeindlichkeit, während Patrioten diese Tendenz eher nicht zeigen (European Sociological Review, Bd.28, S.319-332, 2012). Haben sich Politiker wie der damalige Präsident Horst Köhler 2006 also zu Recht über den "Patriotismus" der deutschen Fans gefreut? Hatte sich hier gerade die weltoffene Haltung der Bundesbürger gezeigt?
Leider kann man das so nicht sagen. Die Marburger Forscher stellten nämlich fest, dass es darauf ankommt, wie wichtig einem Patrioten die demokratischen Prinzipien sind. Je stärker er diese betont, desto geringer ist seine Fremdenfeindlichkeit. "Die Identifikation mit dem Land spielt bei diesen Patrioten keine so wichtige Rolle", sagt Wagner. "Wenn sie aber hochgekocht wird, dann kommt es auch bei Patrioten zu dem gleichen negativen Effekt wie beim Nationalisten."
Bereits 2006 veröffentlichten Wagner, Becker und weitere Forscher eine Studie, die zeigte, dass die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland nach der WM nicht geringer war als zuvor. Der Nationalismus hatte sogar leicht zugenommen. "Vielleicht war die Welt während der Weltmeisterschaft tatsächlich zu Gast bei Freunden, wie es hieß", kommentiert Wilhelm Heitmeyer, einer der Ko-Autoren, die Ergebnisse. "Aber danach war es damit wieder vorbei."
Es geht weniger um Sport und mehr um Zugehörigkeit und Nationalstolz
Auch Daten der Sozialwissenschaftlerin Schediwy widerlegen offenbar die Einschätzung der Politiker, das Auftreten der Fans spiegele vor allem Patriotismus wider. Die Berliner Forscherin hatte während der Weltmeisterschaften 2006 und 2010 sowie bei der EM 2008 Anhänger der deutschen Nationalmannschaft auf den Fan-Meilen befragt. "Es geht hauptsächlich um das Erleben und Ausdrücken von Zugehörigkeit, die im Alltag offenbar wenig erfahrbar ist", sagt sie. Motive der Fans seien ausdrücklich Vaterlandsliebe und Nationalstolz, der Sport selbst landete eher auf dem hinteren Platz. Mit der Zeit, so stellte Schediwy in ihrer Studie fest, empfanden die Fans gerade den Nationalstolz zunehmend als natürlich.
Julia Becker, inzwischen an der Universität von Osnabrück, hat mittels Befragungen während der EM 2016 darüber hinaus festgestellt: Die Wahrscheinlichkeit, bei den Fans - insbesondere bei Männern - Hinweise auf Nationalismus zu finden, wächst mit der Zahl der Fahnen, die jemand mit sich trägt oder am Auto befestigt. Die Korrelation ist zwar schwach - aber vorhanden. Das gleiche gilt für Vorurteile gegenüber Migranten.
Klaus Boehnke von der Jacobs University in Bremen vermutet darüber hinaus bei vielen einen Mitläufer-Effekt. Die sehen den Wirbel um sie herum und wollen auch dabei sein. "Dass sie dabei ein bestimmtes Konzept aufgreifen, ist ihnen vermutlich nicht bewusst." Wagner sieht das ähnlich: "Die nehmen einen Trend mit, der auch von außen durch verharmlosende politische Äußerungen weiter gefördert wird. Und dieser Gesamtprozess birgt über längere Zeit eine große Gefahr des Missbrauchs."
Demnach spielt ein Bezug auf die Demokratie und die sozialen Errungenschaften in der deutschen Gesellschaft kaum eine Rolle für die Fahnen schwingenden Fans. Es mag zwar vielen um den Partyspaß und den Sport gehen - dafür aber bräuchte man keine Fahnen. Den meisten scheint es eher um die Identifikation mit einer Gruppe zu gehen, deren Mitglieder man an den nationalen Insignien erkennt.