Das letzte längere Gespräch ist schon eine Weile her. Der Bildschirm geht an, Zoom schaltet nach Italien - und da sitzt er: Otto Schily. An einem Tisch in seinem Haus in der Toskana. Nichts Spektakuläres auf den ersten Blick, Ambiente in weichen Erdfarben, schöne Holzmöbel, viel Kunst an den Wänden, sanftes Sonnenlicht. Was man halt so erhaschen kann beim Blick über die Schulter.
Schily selbst schaut ziemlich neugierig in die Kamera, sonnengebräunt, verschmitzt, wie er es sein kann. Nicht müde, weder erschöpft noch angestrengt, sondern präsent, nah, aufgeschlossen, und das mit 89. Wow - das ist das erste Gefühl, das einen anspringt.
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Der Eindruck wird in den folgenden anderthalb Stunden bestätigt. Es ist August 2021, wir reden über den Anschlag aufs World Trade Center vor zwanzig Jahren. Schily war damals Bundesinnenminister. Er spricht über den Schreck und den Schock in den ersten Minuten und erinnert an die Anti-Terror-Maßnahmen. Aber er räumt auch ein, dass es damals "unsinnigste Übertreibungen von Bedrohungsszenarien" gegeben hat. Und er stellt bei der Suche nach dem Warum fest, hier seien "wir erst am Anfang, wenn wir es überhaupt je verstehen werden". Mit Polizei und Militär allein sei in diesem Konflikt nichts zu lösen. "Es ist der Kampf um die Köpfe und die Seele der Menschen." Ein Kampf, von dem niemand wisse, ob er je gewonnen werden könne.
Der einstige SPD-Sheriff im Innenministerium: so nachdenklich?
Otto Schily, der einstige SPD-Sheriff im Innenministerium, so nachdenklich? Ebenjener Schily, der sich im Amt lustvoll mit einem Polizeischlagstock fotografieren ließ? Das Videotelefonat zeigt einen Mann, der trotz seines Alters nachforscht, wissen will, Selbstzweifel offen zugibt. Fast könnte man ihn altersmilde nennen. Jedenfalls solange man ausblendet, dass dem nachdenklich-freundlichen Herrn Schily in seiner langen, wechselvollen Karriere fast immer ein zweiter Schily zur Seite stand, der überheblich, zornig und fürchterlich nachtragend sein konnte. Für manchen in seinem früheren Ministerium bleibt unvergessen, wie im Brass Schilys der eine oder andere Aktenordner fliegen lernte.
Otto Schily, geboren am 20. Juli 1932, gehört zu den schillerndsten und unabhängigsten Politikern im Nachkriegsdeutschland. Erstmals bekannt wird er als Anwalt. In den Sechzigerjahren freundet er sich in Berlin mit Rudi Dutschke an und mit Horst Mahler, den er Anfang der Siebziger in einem der ersten RAF-Prozesse verteidigt. Wenig später wird er in Stammheim Vertrauensanwalt von Gudrun Ensslin. Wieder und wieder versichert er später, dass er das nicht als Sympathisant eines wie auch immer motivierten Terrors tat, sondern als Verteidiger des Rechtsstaats.
Kurz darauf startet er seine Politikerkarriere, gründet 1980 die Grünen mit, zieht 1983 für sie in den Bundestag ein und profiliert sich schnell als scharfzüngiger Redner. Mit den meisten Grünen wird der bürgerlich-liberale, aber auch elitäre Schily freilich nie wirklich warm, 1989 wechselt er zur SPD. Das beschert ihm viel Ärger mit alten Weggefährten. In seiner neuen Partei dagegen wächst bald eine Nähe zu Gerhard Schröder heran, der ihn 1998 zum Bundesinnenminister macht.
Doch es sind weniger die Karriereschritte, die ihn so besonders werden lassen. Es ist die radikale Unabhängigkeit im Denken und Handeln, die Schily von früh an ausmachen. Ob als Grüner, als Sozialdemokrat, als Innenminister - Schily schert sich nicht darum, was andere von ihm erwarten. Er denkt, redet und handelt als Freigeist, dem ziemlich schnurz ist, wann er warum mit wem aneckt. Viele haben das früh als Arroganz empfunden, und Schily war (und ist) in der Lage, sein Gegenüber diese Arroganz auch spüren zu lassen. Aber er ist auf seine Weise ein Intellektueller, der - wie bei dem Interview vor einem Jahr - alles durchdenkt, verstehen will und durchdringen möchte. Das kann auch sehr beeindrucken.
Auch zu seinem 90. Geburtstag an diesem Mittwoch bleibt Schily sich treu. In einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur beklagt er mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine einen "gewissen Bellizismus", vor allem bei den Grünen, die zu viel über Waffenlieferungen und zu wenig über Wege zur Beendigung des Krieges nachdenken würden. "Ich kritisiere den mörderischen Krieg ohne Abstriche. Aber wir müssen die Frage stellen, welche Perspektive es über Waffenlieferungen und Geldzuwendungen an die Ukraine hinaus geben kann", mahnt Schily. "Notwendig ist politische Fantasie."
Den gleichzeitigen Ausstieg aus Atom und Kohle kritisiert er
Zugleich bemängelt er einen übereilten Ausstieg aus der Atomkraft: "Die komplette Verabschiedung aus der Nukleartechnik hat uns wirtschaftlich in eine hochriskante Situation gebracht." Durch den gleichzeitigen Ausstieg aus Atom und Kohle sei Deutschland vom Gas abhängig geworden, so Schilys Analyse.
Die Grünen, Teile der SPD, die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel - auch in dem dpa-Gespräch bekommen viele wieder ziemlich viel Kritik ab von einem, der sich das Denken noch nie durch Parteiräson hat einschränken lassen. Typisch Schily, und das zum 90. Geburtstag.