Schließt sich Viktor Orbán einer neuen europäischen Parteienverbindung von Matteo Salvini an? Der italienische Innenminister will ein Rechts-Außen-Bündnis mit dem Namen "Europäische Allianz der Völker und Nationen" auf die Beine stellen. Die AfD, die österreichische FPÖ und der Rassemblement National der Französin Marine Le Pen haben ihre Teilnahme bereits zugesagt. Orbáns rechtsnationale Fidesz-Partei gehört der Europäischen Volkspartei (EVP) an, doch nach einem Streit um Orbáns EU-Kritik ruht die Mitgliedschaft derzeit. Am Donnerstag besucht Salvini den ungarischen Regierungschef in Budapest.
Herr Ministerpräsident, Sie hatten enge Beziehungen zu Silvio Berlusconi. Haben Sie für Salvini ähnliche Gefühle?
Viktor Orbán: Mein bester Freund ist immer noch Berlusconi - eine grandiose, epochale Person. Aber Salvinis Rolle heute ist größer.
Was erwarten Sie von ihm?
An diesem Donnerstag kommt er nach Ungarn, in ein Land, in dem er als Freund betrachtet wird. Die Leute hier sehen in ihm einen Schicksalsgenossen. Er ist der Held, der die Migration über das Meer gestoppt hat, wir jene über Land.
Treffen sich da zwei Parteiführer, oder handelt es sich um einen offiziellen Besuch auf Regierungsebene?
Ich werde ihn als Minister und Vizepremier der italienischen Regierung empfangen, aber wir werden nicht nur über bilaterale Themen sprechen, sondern auch über Parteiangelegenheiten. Und dann werden wir nach Röszke fahren, an die serbische Grenze, um ihm zu zeigen, wie wir diese Grenze verteidigen.
Salvini möchte, dass sich die Europäische Volkspartei nach der Europawahl mit ihm verbündet. Und Sie?
Sagen wir so: Die EVP bereitet sich gerade auf ihren Selbstmord vor. Sie will sich mit der Linken zusammenschließen, um gemeinsam unterzugehen. Die Wahrheit ist doch: Die EVP stellt immer weniger Premierminister, und wir werden künftig noch weniger Sitze haben.
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Der ungarische Ministerpräsident hatte zuletzt mit Anti-EU-Rhetorik gegen die eigene Parteienfamilie für Aufsehen gesorgt. Seiner Fidesz-Partei droht deswegen der Rauswurf aus der konservativen Fraktion im Europaparlament.
Hat die EVP nicht die Mitgliedschaft Ihrer Fidesz-Partei suspendiert? Schwebt über Ihrem Kopf nicht das Urteil des Ausschlusses?
Über der EVP schwebt ein Urteil, nämlich das der Wähler. Ich möchte, dass unsere Partei diesem selbstmörderischen Schicksal entgeht.
Sie glauben, dass Sie mit Salvinis Hilfe den Kopf aus der Schlinge ziehen werden?
Binden wir uns nicht an die Linke, suchen wir einen anderen Weg: den der Zusammenarbeit mit der europäischen Rechten. Wir wissen nicht, welche Formation Salvini aufstellen wird, aber hoffen wir, dass es eine starke sein wird. Die EVP muss mit dieser europäischen Rechten zusammenarbeiten. Es ist kein Geheimnis, dass ich diese Linie vertrete. Wie genau sich diese Partnerschaft gestaltet, wird man noch sehen müssen - ich möchte jedenfalls, dass Italiens Vizepremier mit der EVP zusammenarbeitet. Eine Schlüsselrolle dabei muss Forza Italia spielen, Berlusconis Gruppe innerhalb der EVP.
Sie haben Ihre Wahlkampagne auf das Thema Migranten gebaut.
Nicht nur die Kampagne, sondern auch die Arbeit der kommenden zehn Jahre.
In vielen europäischen Ländern, auch in Italien, zeigen Umfragen, dass sich die Wähler mehr um Arbeitslosigkeit, wachsende Ungleichheit und die stockende Wirtschaft sorgen als um das Thema Flüchtlinge.
Die Migration ist die größte Herausforderung, vor die uns die Geschichte stellt. Ich spreche von Völkerwanderung. Dahinter stecken demographische Ursachen: Die Europäer werden immer weniger, während im Sahel, in der arabischen Welt und in Schwarzafrika immer mehr Menschen leben. Die machen sich auf den Weg, ziehen und irren umher, um irgendwann hier anzulanden. Wenn es zu Terroranschlägen oder anderen großen Verbrechen kommt, dann erwacht in den Köpfen der Menschen wieder das Bewusstsein dafür, wie elementar das Thema Migration ist. Wenn dagegen nichts Derartiges passiert, dann schwindet in den Köpfen der Menschen die Sorge. Die Aufgabe eines politischen Anführers ist es, das Problem im Blick zu behalten und Schaden fernzuhalten, bevor eine neue Welle ankommt. Und sie wird kommen. So war es 2015, und so wird es auch in der Zukunft sein. Man muss die großen Wanderungsbewegungen vorhersehen, und wenn man sie nicht unterbinden kann, muss man sie stoppen. Daher denke ich, dass Salvini heute die wichtigste Person Europas ist.
Mit Italien stimmen sie beim Thema Migration allerdings nicht in allen Punkten überein. Rom will, zumindest auf dem Papier, das Dublin-Abkommen korrigieren und fordert eine Umverteilung. Sie dagegen beharren auf Ihrem Nein zu Quoten.
Die Italiener wollen sich der Einwanderer entledigen und sie unter den anderen Ländern aufteilen. Dafür ist in Brüssel eine Ideologie erfunden worden, man nennt sie Solidarität. Unsere Position ist eine andere: Wir haben uns verteidigt, und wir haben verhindert, dass sie hierher kommen - und wir wollen auch nicht, dass die Migranten von euch zu uns kommen.
Leicht gesagt, aber wie wollen Sie da vermitteln?
Wir müssen in Europa nicht die Migranten aufteilen und verteilen, sondern wir müssen sie nach Hause zurückbringen. Nicht die Probleme hierherholen, sondern bei ihnen zu Hause helfen. Ungarn gibt für sein Programm unter dem Namen "Hungary Helps" mehr aus, als wir uns eigentlich leisten können. Zudem kooperieren wir bei den Abschiebungen.
Und Dublin, das Prinzip wonach das Ankunftsland für den Asylantrag zuständig ist?
Tot. Eine Rechtsnorm, an die sich niemand hält, existiert nicht.
So schafft man ein rechtliches Vakuum. Was schlagen Sie stattdessen vor?
Dublin wurde geboren, als es noch keine Masseneinwanderung gab. Aber um diese gigantische Völkerströme zu bewältigen, ist nicht nur Dublin, sondern auch Brüssel ungeeignet. Es gibt keine gemeinsame europäische Lösung; wir haben uns jahrelang Illusionen darüber gemacht, und in der Zwischenzeit hat sich die Lage immer weiter verschlimmert. Brüssel, die Kommission und das europäische Parlament, müssen sich da raushalten und es den Mitgliedsstaaten überlassen, sich selbst zu kümmern.
Wie?
Indem sie eine Institution nach dem Vorbild des Wirtschafts- und Finanzrats Ecofin schaffen, müssen die Innenminister der Schengen-Länder zusammenarbeiten und zwischenstaatliche Lösungen finden.
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Sie skizzieren eine sehr klare Idee von Europa. Bei einer Rede in Transsilvanien haben Sie gesagt, Mitteleuropa müsse zum Protagonisten werden und die Schlüssel zur eigenen Zukunft in die Hände nehmen. Wie stellen Sie sich die EU in 20 Jahren vor?
Europa hatte eine interne Dynamik, die sich auf vier Protagonisten stützte: Deutschland, das Vereinigte Königreich, den Mittelmeerraum einschließlich Frankreichs, und Mitteleuropa. Das Verhältnis dieser vier Akteure bildete ein politisches Gleichgewicht, aber inzwischen hat sich dieses Gleichgewicht aufgelöst.
Inwiefern?
Das Vereinigte Königreich hat sich entschlossen zu gehen. Deutschland hat zu viele Vorteile aus der Eurozone gezogen, ohne ihre Partner daran teilhaben zu lassen. Und die Länder Mitteleuropas haben sich schneller entwickelt als erwartet, so dass sie bis 2030 Nettozahler in der EU werden. Mitteuropa muss künftig mehr Gewicht haben. Deutschland dagegen muss sich von dem Anspruch verabschieden, dass alles entlang der französisch-deutschen Achse entschieden wird.
Europa erlebt gerade eine Wiederkehr der Nationalismen. Fürchten Sie nicht, dass dies zu Instabilität führt?
In der europäischen Terminologie ist der Nationalismus negativ besetzt, für mich nicht. Die übergroße Zahl der europäischen Intellektuellen geht davon aus, dass Kriege, Diktaturen und Leid durch Nationalismus verursacht worden seien. Ich sehe das anders. Diese Tragödien wurden durch Versuche entfesselt, verschiedene europäische Imperien aufzubauen. In Brüssel sehe ich zurzeit genau diese Gefahr.
In Ihrer Politik spielt die Geschichte Ungarns eine große Rolle: Sie zitieren immer wieder Daten wie den Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 oder den Trianon-Vertrag von 1920. Warum?
Aus diesen Erfahrungen speist sich das unbändige Sehnen des ungarischen Volkes nach Freiheit. Nach dem Ersten Weltkrieg, infolge des Trianon-Vertrags, fanden sich Millionen von Ungarn plötzlich in den Grenzen anderer Länder wieder, wo sie als Bürger zweiter Klasse behandelt wurden. 1945 wurden wir von der Sowjetunion besetzt, 1956 haben wir uns aufgelehnt. Diese Ereignisse haben unsere Identität geschmiedet.
Sie sind ein leidenschaftlicher Verfechter der nationalen Identität und eines christlichen Europas. Ist ihre Ablehnung des Multikulturalismus nicht ahistorisch in einer globalisierten Welt?
Da sind West- und Mitteleuropa sehr verschieden. Ich stelle nicht das Recht der anderen in Frage, sich ihres Multikulturalismus zu erfreuen. Aber sie müssen akzeptieren, dass Ungarn ihnen da nicht folgt. Auch unsere Verfassung beschreibt das Christentum als eine Kraft, die die Nation stärkt.
Was ist illiberale Demokratie?
Eine Demokratie, die sich auf das Christentum gründet - wobei illiberal bedeutet nicht zwangsläufig anti-liberal bedeutet. Das ist eine wichtige Unterscheidung. Heute sind die liberalen Demokraten die wahren Feinde der Freiheit. Als Verfechter der Freiheit muss ich illiberal sein.
Die Liberalen sind die Feinde der Freiheit?
Sie haben ein Denksystem geschaffen, jenes der politischen Korrektheit, das alle befolgen müssen. Wer das politische Korrekte in Frage stellt, kann ihnen zufolge kein Demokrat sein. Aber so wird die Gedanken- und Meinungsfreiheit verletzt. Ich dagegen, als Illiberaler, verteidige die Freiheit des Wortes. Ich weiß, dass das in den westlichen Hauptstädten merkwürdig klingt. Aber hier im Herzen Mitteleuropas denken alle so.
Apropos Freiheit: Meinen Sie nicht, dass die Entscheidung der Soros-Universität, von Budapest nach Wien zu ziehen, Ihrem Image und dem Ihres Landes geschadet hat?
Ja, weil die Central European University so eine starke Marke ist. Zugleich spricht niemand spricht darüber, dass sich in den vergangenen zwei, drei Jahren viele europäische Hochschulen in Budapest angesiedelt haben.
Der ungarischen Wirtschaft geht es gut, die Arbeitslosenquote liegt bei 3,5 Prozent. Ihre Gegner sagen, Sie hätten Beschäftigung in Form von Sozialjobs geschaffen; es gebe mehr Leute, die öffentliches Grün schneiden und bewässern, als nötig.
Seit 2010 haben wir 800.000 Arbeitsplätze geschaffen, davon nur 121.000 Sozialjobs. Als ich 2010 wieder die Regierung übernahm, gab es 550.000 Menschen, die Sozialleistungen bezogen, ohne zu arbeiten. Ich will nur dem Geld geben, der auch etwas tut. Ich akzeptiere es nicht, wenn ein Familienvater morgens aufsteht, die Kinder zur Schule schickt und dann zu Hause bleibt und nichts tut.
In Europa wächst der Antisemitismus. Sie haben vor einigen Wochen Netanjahu getroffen, was haben Sie ihm gesagt?
Meine Regierung vertritt eine Null-Toleranz-Linie gegenüber Antisemitismus. Schon vor 20 Jahren, in meiner ersten Amtszeit, haben wir in den Schulen den Holocaust-Gedenktag eingeführt. Wir haben Synagogen und jüdische Friedhöfe restauriert. Bei uns gibt es eine große jüdische Gemeinschaft, Christen und Juden leben gut zusammen, die größte Synagoge Europas und die größte Basilika von Budapest stehen dicht beieinander. Ungarn ist der sicherste Ort für Juden in Europa.
Werden Sie dem Beispiel von Trump folgen und die ungarische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen?
Wir haben ein Büro für diplomatische Angelegenheit und für Handelsbeziehungen in Jerusalem eröffnet, aber bis auf Weiteres bleibt die Botschaft in Tel Aviv.
Ungarn macht Geschäfte mit China, schließt Energieabkommen mit Putins Russland: Sie reden mit allen, auch mit den Feinden Trumps. Was werden Sie ihm sagen, wenn Sie ihn sehen?
Der Liste könnten wir auch noch die Türkei hinzufügen, mit der wir den Handelsaustausch verdoppeln werden. In Europa gibt es die Neigung, Außenpolitik zum Export eines Wertesystems zu nutzen. Man will die angebliche moralische Überlegenheit des Westens demonstrieren: Menschenrechte, Demokratie, Humanismus. Ich halte diesen Ansatz nicht für richtig. Der Export von Demokratie ist überall gescheitert, wo man ihn versucht hat. Was die moralische Überlegenheit angeht, da habe ich meine eigenen Gedanken. Uns haben sie 1956 Stalin überlassen, obwohl sie versprochen hatten, uns zu helfen. Sie sind nicht gekommen. Für mich ist Außenpolitik ein Mittel, um Freunde zu haben und um wichtige Staaten dafür zu gewinnen, am Erfolg Ungarns mitzuwirken.
Womit wir wieder bei Trump wären.
Mit ihm bin ich im spirituellen Einklang. Sein "America First", sein offenes Ins-Zentrum-Stellen der nationalen Interessen ist etwas, das ich voll und ganz teile. Das tun viele, sie treten für ihre nationalen Interessen ein, aber sie sagen es nicht. Trump sagt zu Recht, wir müssen unsere Militärausgaben erhöhen - aber unsere Wirtschaftsbeziehungen sind besser denn je. Wir brauchen den amerikanischen Markt, die ungarische Wirtschaft stützt sich zu 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf den Export. Handel ist essenziell für uns - und damit auch der europäische Binnenmarkt als Säule der EU. Der Weg des Brexit ist für uns nicht gangbar. Die politische Integration dagegen ist eine andere Sache.
Interview: Alberto Simoni (La Stampa), Übersetzung aus dem Italienischen von Tobias Zick
Dieses Interview erschien zuerst in der italienischen Tageszeitung "La Stampa". "La Stampa" ist Teil einer Europa-Kooperation, zu der neben der "Süddeutschen Zeitung" auch "Le Monde", "The Guardian", "La Vanguadia" und "Gazeta Wyborcza" gehören.