Neue Pegasus-Enthüllungen:Abhörskandal erschüttert Israel

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Ein Gebäude des Unternehmens NSO im israelischen Ort Sapir. Die Firma hat die Spionagesoftware Pegasus entwickelt. (Foto: Menahem Kahana/AFP)

Die Polizei soll illegal die Handys hoher Beamter, Geschäftsleute und Journalisten ausgespäht haben. Auf der Liste der Zielpersonen finden sich viele aus dem engen Umfeld von Ex-Premier Netanjahu.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Es kann jeden treffen - diese Botschaft rüttelt Israel auf, seit die Wirtschaftszeitung Calcalist eine lange Liste von Zielpersonen veröffentlicht hat, die von der israelischen Polizei illegal mit der von der Firma NSO entwickelten Spionagesoftware Pegasus ausgespäht worden sein sollen. Bürgermeister sind darunter, Wirtschaftsführer, hohe Staatsbeamte sowie viele Personen aus dem engsten Umfeld des früheren Premierministers Benjamin Netanjahu, darunter sein Sohn Avner. Die Politik reagiert alarmiert. Von einem "Erdbeben" ist die Rede und einer ernsthaften Bedrohung der Demokratie durch einen wild gewordenen Überwachungsapparat.

Mit der jüngsten Enthüllung schlägt der NSO-Skandal nun also mit einiger Verspätung auch in Israel hohe Wellen, an der Quelle sozusagen. NSO ist eine israelische Firma, deren Späh-Software unbemerkt die Kontrolle über Mobiltelefone übernehmen kann. Der damit mögliche Missbrauch stand im Mittelpunkt des sogenannten "Pegasus-Projekts", bei dem die Süddeutsche Zeitung im Verbund mit anderen internationalen Medien im vorigen Sommer aufgedeckt hatte, wie autoritäre Regime weltweit Journalisten, Menschenrechter und Oppositionelle ausspähten.

In den USA wurde die Firma NSO inzwischen auf eine Sanktionsliste gesetzt. In Israel aber hatte sie sich bislang weiterhin der Protektion durch die Politik sicher sein dürfen. Zu den Beschwichtigungsformeln der Software-Entwickler zählte unter anderem die Behauptung, dass ihre Produkte nur zur Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität eingesetzt würden - und dass israelische ebenso wie US-amerikanische Telefonnummern gar nicht ausgespäht werden könnten. Das scheint nun durch die jüngsten Berichte widerlegt zu sein.

Zweiflern wurde vorgehalten, sie würden die Arbeit der Polizei behindern

Auf die ersten Anschuldigungen vor zwei Wochen hatte Israels Polizei noch mit einem erbosten und kategorischen Dementi reagiert. Zweiflern wurde vorgehalten, sie würden die Arbeit der Polizei behindern und das Land den Verbrechern und Terroristen überlassen wollen. Vor einigen Tagen musste man dann allerdings vage einräumen, es gebe "neue Erkenntnisse". Nun nennt die Zeitung Calcalist Ross und Reiter.

Veröffentlicht wurde zu Wochenbeginn eine Liste mit den Namen Dutzender Personen, deren Telefone ohne Verdacht auf kriminelle Handlungen und ohne richterliche Genehmigung von der Polizei gehackt worden sein sollen. Es findet sich darauf zum Beispiel Rami Levy, der landesweit bekannte Besitzer einer großen Supermarktkette. Auch die drei Generaldirektoren der Ministerien für Finanzen, Justiz und Transport stehen darauf, offenbar wegen des Verdachts der Weitergabe von Informationen an Journalisten. Die Anführer von Protestbewegungen wurden demnach ebenso ausgespäht wie Siedlervertreter vor geplanten Räumungsaktionen. Das alles wirkt recht wahllos und vor allem: unkontrolliert.

Lauter noch als alle anderen schlug Benjamin Netanjahu Alarm

"Wenn diese Berichte stimmen, dann sprechen wir von einem Erdbeben und von Taten, die zu dunklen Regimen aus früheren Jahrhunderten passen", sagte Innenministerin Ayelet Schaked in einem Radiointerview. Die Entrüstung muss man vor dem Hintergrund sehen, dass sie bislang als enge Freundin der NSO-Präsidentin Schiri Dolev gilt.

Auch Premiermister Naftali Bennett hatte zu Beginn der Corona-Pandemie vor zwei Jahren noch eine Software von NSO zum Tracking bei der Corona-Bekämpfung einsetzen wollen. Nun versprach er der Bevölkerung volle Aufklärung über den möglichen Missbrauch. "Wir verstehen den Ernst dieser Angelegenheit", sagte er. Sogar Israels Präsident Isaac Herzog schaltete sich ein. "Wer für Recht und Ordnung sorgt, muss sauberer als alle anderen sein", erklärte er. "Wir dürfen nicht unsere Demokratie und das Vertrauen in unsere Polizei verlieren."

Lauter noch als alle anderen aber schlug der frühere Premier und heutige Oppositionsführer Benjamin Netanjahu Alarm. Von einem "dunklen Tag für den Staat Israel" sprach er. Ein solcher Einsatz der Spähsoftware sei vergleichbar damit, dass Israels Armee die eigenen Bürger bombardiere.

Netanjahu selbst hatte die NSO-Spionagesoftware weltweit angepriesen

Auf den ersten Blick wirkt ein solcher Ausbruch überraschend, ja fast paradox. Schließlich hatte Netanjahu persönlich den Polizeichef Roni Alscheich ausgewählt, in dessen Amtszeit von 2015 bis 2018 offenbar die meisten Ausspähungen fielen. Alscheich war zuvor Vize beim Inlandsgeheimdienst Schin Bet gewesen, und Netanjahu gab ihm den Auftrag mit auf den Weg, die Cybertechnologie in die Polizeiarbeit einzubringen.

Vor allem aber hatte Netanjahu selbst die NSO-Spionagesoftware weltweit angepriesen. "Pegasus-Diplomatie" lautet das Stichwort: Der Verkauf der israelischen Software soll zum Beispiel dabei geholfen haben, den Weg zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu mehreren arabischen Staaten zu ebnen.

Nun aber sieht Netanjahu die Chance, den Skandal in seinem Korruptionsprozess zu nutzen. Denn auf der Liste jener, die von der Polizei illegal gehackt worden sein sollen, stehen zahlreiche Personen aus seinem engeren Umfeld, diverse wichtige Zeugen sowie andere Angeklagte. Seine Anwälte träumen bereits von einem Ende des Verfahren. Zumindest sollen die Anhörungen erst einmal eingestellt werden.

Klarheit über den israelischen Pegasus-Fall dürfte man, wenn überhaupt, allerdings erst in einigen Monaten haben. Der zuständige Minister für die öffentliche Sicherheit hat nun die Einsetzung einer Untersuchungskommission angekündigt.

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