NS-Verbrecher in Deutschland:Es ist nicht irgendwann einmal gut

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Bewusst plakativ ruft das Simon-Wiesenthal-Zentrum zur Verfolgung der verbliebenen NS-Verbrecher in Deutschland auf. Zurecht, denn es geht nicht um Denunziation oder darum, ob Prozesse gegen hochbetagte Männer noch zu Ende geführt werden können. Die "Operation Last Chance" ist der Versuch, den Hinterbliebenen noch so etwas wie Gerechtigkeit zu verschaffen.

Ein Kommentar von Ulrike Heidenreich

"Last Chance" heißt die Operation - letzte Chance. Unter Chance versteht man eine günstige Gelegenheit. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum hat in bewusst plakativer Aufmachung eine Kampagne zur Suche nach Nazi-Verbrechern in Deutschland gestartet. 2000 Aufrufe werden in Berlin, Hamburg und Köln geklebt.

Unter dem Motto "Spät. Aber nicht zu spät!" setzt die Organisation, die auf der ganzen Welt untergetauchte Nazi-Verbrecher aufspürt, bis zu 25.000 Euro Belohnung für "wertvolle Informationen" aus. Die Gefahr aber, dass hier Denunzianten eine günstige Gelegenheit ergreifen könnten und alte Männer in der Nachbarschaft anschwärzen, ist äußerst gering.

Wenn der Historiker Michael Wolffsohn von pietätlosem Kopfgeld spricht, kann man sein Unbehagen einerseits nachvollziehen. Die Sorge, dass Plakate zu einer Art öffentlichen Jagd führen, die dann auch Unschuldige treffen könnte, ist auf den ersten Blick verständlich. Andererseits geht der Aufruf des Wiesenthal-Zentrums ins Anonyme. Er ist bebildert mit einem Foto des Eingangstors von Auschwitz, nicht aber mit Foto und Namen von Verdächtigungen, wie es die Polizei macht, wenn sie schon sehr konkret weiß, wen sie sucht.

Vor allem aber ist die langjährige Erfahrung der Nazi-Jäger eine andere: Die besten Hinweise sind immer von Menschen gekommen, die kein Geld, sondern Gerechtigkeit wollten. Und darum geht es bei der Plakataktion: um Recht, nicht um Rache.

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum hat die richtige Form gewählt. Die Ausschreibung einer Belohnung garantiert hohe Aufmerksamkeit, bei den Medien und bei den Menschen. Sie durchbricht die selbstgerechte "Irgendwann-muss-es-einmal-gut-sein"-Haltung, die inzwischen recht verbreitet ist. Die "Operation Last Chance" versucht, in der kurzen, noch verbleibenden Zeit, Versäumnisse der Justiz aufzuholen, die viele ehemalige Nazis jahrzehntelang nicht mit der gebotenen Härte verfolgt hat. Diejenigen, die noch leben, sind nun um die 90 Jahre alt.

Es ist nicht irgendwann einmal gut. Die Besatzungen in den Konzentrationslagern und mobilen Mordkommandos wussten genau, was sie taten. Früher unterstellte die deutsche Justiz ihnen keinen eigenen Tatwillen. Seit das Landgericht München II vor zwei Jahren sein Urteil gegen den ehemaligen SS-Wachmann John Demjanjuk sprach, ist das anders. Vorher konnte bei NS-Delikten nur der Nachweis einer Individualschuld zu einer Verurteilung führen. Seitdem genügt, dass einer im Vernichtungslager Dienst getan hat.

Bis zu 120 lebende Nazi-Verbrecher in Deutschland

Es sind schätzungsweise 60 bis 120 noch lebende Nazi-Verbrecher in Deutschland, die unter den neuen Umständen verurteilt werden könnten. Um die Frage, ob Prozesse gegen hochbetagte Männer noch geführt und zu Ende gebracht werden können, geht es nicht. Wichtig ist, dass sie sich überhaupt noch ihrer Verantwortung stellen müssen, nachdem es ihnen fast 70 Jahre gelungen war, sich ihr zu entziehen. Der Leiter des Jerusalemer Wiesenthal-Zentrums berichtet, dass er niemals einen Nazi-Verbrecher getroffen habe, der Reue gezeigt habe. Im Gegenteil, manche seien stolz auf das gewesen, was sie taten.

Da kann ein Plakat, das weiß auf rot auch eine Hotline für sachdienliche Hinweise liefert, gar nicht schamlos sein, wie das der Historiker Wolffsohn moniert hatte. Es geht darum, den Überlebenden und deren Angehörigen noch so etwas wie Gerechtigkeit zu verschaffen. Für sie war der Schrecken schließlich nie vorbei - egal wie ihr Leben danach weiterging. Und auch deren Kinder und Kindeskinder sind geprägt von den Traumata der Familiengeschichte. Das Mindeste, was man ihnen bieten muss, ist: alles unternehmen, um zu kriegen, wen man kriegen kann. Die Plakataktion ist ein solcher Versuch.

© SZ vom 25.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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