Vereinigtes Königreich:Sinn Féin stellt erstmals Regierungschefin in Nordirland

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Michelle O'Neill ist die neue Regierungschefin Nordirlands. (Foto: Peter Morrison/AP)

Michelle O'Neill ist in Belfast zur "First Minister" gewählt worden. Ihre Partei lehnt den Verbleib im Vereinigten Königreich ab, sie selbst hat familiäre Verbindungen zur IRA. Was bedeutet das für die Region?

Von Michael Neudecker, London

Kurz bevor sie gewählt wurde, veröffentlichte Michelle O'Neill ein Statement, in dem sie schrieb, was man eben so sagt, wenn man Regierungschefin wird. Dass dies "ein historischer Tag" sei, dass sie "First Minister für alle" sein werde, und: "Es geht um die Zukunft." Nur, Michelle O'Neill ist Nordirin, und es geht nie nur um die Zukunft in Nordirland. Die Vergangenheit ist immer präsent, und gerade Michelle O'Neill ist da keine Ausnahme.

Nordirland ist innerhalb des Vereinigten Königreichs ein Konstrukt, das es seit 1921 gibt, erschaffen als Folge des Irischen Unabhängigkeitskrieges. In Nordirland wollte die protestantische Mehrheit damals keine Abspaltung vom Vereinigten Königreich, und das blieb jahrzehntelang so. Michelle O'Neill ist nun die erste nordirische Regierungschefin einer Partei, die einen Verbleib im Königreich prinzipiell ablehnt und eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland anstrebt.

Im Mai 2022 gewann Sinn Féin erstmals die Wahlen in Nordirland, 29 Prozent der Erststimmen gingen an die republikanische Partei, 21 Prozent wählten die Democratic Unionist Party (DUP), die bisher stärkste Kraft gewesen war. Das Karfreitagsabkommen von 1998, das den Frieden in Nordirland nach Jahrzehnten der Unruhen regelte, besagt unter anderem, dass die Regionalregierung in Nordirland zu gleichen Teilen von einer republikanischen und einer unionistischen Partei besetzt sein muss; der Wahlsieger hat das Recht, den prestigeträchtigeren Posten des First Minister zu besetzen, der Wahlzweite nominiert den gleichberechtigten Stellvertreter.

"Verantwortung meiner Generation, die Wunden der Vergangenheit zu heilen"

Die DUP weigerte sich allerdings, kurz gesagt aus Protest gegen die nach dem Brexit geschlossenen Abkommen. Erst jetzt, nach zwei Jahren, in denen Nordirland keine eigene Regionalregierung hatte, gab es eine Einigung. Am Samstagnachmittag trat in Belfast das Parlament zusammen, um O'Neill zur neuen Chefin zu wählen und Emma Little-Pengelly von der DUP zur Vizechefin.

O'Neill, die vor Kurzem 47 Jahre alt wurde, trat 1998 in die Partei ein, kurz nach dem Karfreitags-Friedensabkommen. Sie wurde mit 16 Jahren Mutter, ist aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie in einem Dorf in einer Gegend in Nordirland, die sie später zu ihrer ersten weiblichen Bürgermeisterin wählte. Sie gilt einerseits als Vertreterin der neuen Generation, der ersten in der Partei, die selbst keine aktive Rolle mehr in der IRA ausübte. Die Kämpfer der Irish Republican Army waren während der Unruhen zwischen den 1960ern und 1998 für zahlreiche Attentate verantwortlich. Andererseits saß ihr inzwischen verstorbener Vater Brendan Doris als aktiver IRA-Vertreter im Gefängnis, ihr Onkel war Präsident einer Gruppe, die Geld für die IRA sammelte, und einer ihrer Cousins starb als IRA-Kämpfer. 2018 wurde O'Neill zur stellvertretenden Parteichefin gewählt, gefördert von den beiden langjährigen Parteichefs und früheren IRA-Größen Gerry Adams und Martin McGuinness.

Der Irish Times sagte O'Neill einmal, es sei traurig, dass die Unruhen passiert seien, sie sehe es als "Verantwortung meiner Generation, die Wunden der Vergangenheit zu heilen". Regierungschefin für alle sein, diesen gerade in Nordirland schwierigen Spagat versucht sie nun zu schaffen, indem sie einerseits Beerdigungen früherer IRA-Größen besucht, wie im März 2021, als sie gemeinsam mit anderen Parteimitgliedern beim Begräbnis des langjährigen IRA-Mannes Bobby Storey war. Andererseits aber nahm sie auch an der Beerdigung von Elizabeth II. und der Krönung von Charles III. teil, obwohl ihre Partei die Monarchie ablehnt. Es sei wichtig, sagte sie danach, "Respekt gegenüber jedem zu zeigen".

Es geht um die Zukunft: Nach Umfragen beschäftigen die meisten Menschen in Nordirland hauptsächlich Themen wie die wirtschaftliche Lage und die Arbeitslosigkeit. Was ihre Wahl und die Popularität von Sinn Féin aber für die Zukunft Nordirlands im Vereinigten Königreich bedeutet, das ist die viel größere Frage, die Michelle O'Neill ihre gesamte Amtszeit begleiten wird.

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