Niederlande:Alle Führungsfragen offen

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Ein rechtes Mehrheitskabinett unter seiner Führung scheint derzeit nicht zustande zu kommen: Geert Wilders von der islamkritischen PVV. (Foto: Koen Van Weel/DPA)

In Den Haag muss die Suche nach einer neuen Regierung von vorn beginnen. Möglich, dass die Parteien ein demokratisches Experiment wagen.

Von Thomas Kirchner

Die Spitzen der niederländischen Politik suchen weiterhin nach einer neuen Regierung. Wer sie bilden wird und welche Form sie annehmen könnte, ist offener denn je. Eine lange Parlamentsdebatte ergab am Mittwoch kein eindeutiges Bild, im Prinzip sind die Parteien wieder so weit wie kurz nach der Parlamentswahl vor knapp drei Monaten. Der klare Wahlsieger Geert Wilders von der islamkritischen Partei für die Freiheit (PVV) schlug als neuen Sondierer Kim Putters vor, den Vorsitzenden des unabhängigen Sozial- und Wirtschaftsrates, der die Regierung berät.

Der ehemalige sozialdemokratische Politiker soll demnach mit allen Parteien nicht über politische Inhalte, sondern nur über die mögliche Form einer künftigen Regierung reden. Zur Rede stehen ein Minderheitskabinett, aber auch eher experimentelle Formen wie ein außerparlamentarisches Kabinett.

Omtzigt sympathisiert mit alternativen Regierungsformen

Vorerst ausgeschlossen scheint ein rechtes Mehrheitskabinett unter Führung von Wilders zu sein. Darüber hatten Wilders, Caroline van der Plas von der Bauer-Bürger-Bewegung (BBB), Dilan Yeşilgöz von der rechtsliberalen VVD und Pieter Omtzigt (Neuer Sozialvertrag, NSC) unter Leitung des Sondierers Ronald Plasterk die vergangenen zwei Monate gesprochen. Vergangene Woche hatte sich Omtzigt vorzeitig von den Gesprächen verabschiedet. Als Grund nannte er zunächst, dass er von Plasterk unzureichend über drohende Risiken für den Haushalt informiert worden sei. Später ließ er durchblicken, dass ihm grundsätzlich das Vertrauen in Wilders' rechtsstaatliche Redlichkeit fehle.

Mehrere Politiker rügten Omtzigt wegen dieses Schritts. Wilders sprach am Mittwoch von einer "enormen Enttäuschung", die auch unnötig gewesen sei. "Mit Weglaufen löst man kein einziges Problem."

Omtzigt macht kein Hehl aus seiner Vorliebe für Alternativen zur üblichen Regierungsform, bei der sich eine Koalition auf eine Mehrheit im Parlament stützt. Gemeint sind neben Minderheitskabinetten auch reine Experten- oder "extraparlamentarische" Regierungen. Bei letzterer würden sich mehrere Parteien auf inhaltliche Grundlinien und einen finanziellen Rahmen verständigen. Die Minister könnten aber aus dem ganzen Parteienspektrum und auch von außerhalb der Politik kommen. Omtzigt favorisiert diese Modelle, weil sie die Dominanz der Exekutive brechen und die Rolle des Parlaments bei der Gesetzgebung stärken würden. "Nichts hat dem Land in den vergangenen Jahren mehr geschadet als diese erstickenden detaillierten Koalitionsabsprachen", sagte er in der Debatte.

Wilders versprach Rechtsstaatlichkeit

Derzeit hält Omtzigt eine Minderheitskoalition aus PVV, BBB und VVD, der seine Partei "konstruktiv begegnen würde", für das Sinnvollste. Yeşilgöz wiederum, die bisher nur eine Duldung einer solchen Minderheitskoalition durch ihre Partei ins Auge gefasst hatte, sprach sich nun für ein "extraparlamentarisches" Kabinett aus. Dies sei die "realistischste der übrig gebliebenen Optionen", sagte sie. Wie ein solches Kabinett aussehen könnte, darüber sollten die Parteien nun verhandeln.

Haupthindernis für eine künftige Regierung bleibt Wilders' politische Radikalität: seine Vorstöße, den Koran zu verbieten, Moscheen zu schließen, seine xenophoben Reden, seine Attacken auf Journalisten, auf angeblich voreingenommene Richter, seine Ablehnung, die Ukraine gegen Russlands Angriffe zu unterstützen. Auch deshalb hatte Omtzigt darauf bestanden, in den ersten Koalitionsgesprächen zunächst rechtsstaatliche Garantien zu fordern.

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Diese hat Wilders offenbar geliefert, wie aus Plasterks Bericht ans Parlament hervorgeht. Demnach gelobt er, alle wesentlichen Grundrechte zu achten. Auch dem Islam, den er bisher als "totalitäre Ideologie" und nicht als Religion ansah, sei Religionsfreiheit zu gewähren. Außerdem müssten "unabhängige Institutionen wie der Rechtsstaat, die Wissenschaft und die Medien beschützt und gestärkt werden".

In der Debatte versicherte Wilders, diese Punkte weiterhin achten zu wollen. Beobachter hatten sich gewundert, dass er derart weitreichende Garantien abgibt. Nimmt man ihn beim Wort, verabschiedet er sich damit von wesentlichen Glaubenssätzen.

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