Neue Weltordnung:Kleingehacktes mit Essenz

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Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 Vizekanzler und Bundesaußenminister. Heute ist er Chef einer Unternehmensberatung. (Foto: dpa)

Ex-Außenminister Joschka Fischer beschreibt pünktlich zu seinem 70. Geburtstag den Wandel des Westens im geopolitischen Spiel um Macht und Dominanz - und warnt er vor dem Untergang.

Rezension von Stefan Kornelius

Joschka Fischer hat immer dann ein bedeutendes Buch geschrieben, wenn die Zeiten bedeutend waren und sein politischer Instinkt ihm die Feder geführt hat. "Risiko Deutschland" von 1994 war seine wohl wichtigste Veröffentlichung, weil er hier ein staatspolitisches Glaubensbekenntnis ablegte, das von der Regierungsfähigkeit und vom richtigen Modernitätsverständnis der Grünen zeugte. Vier Jahre lang sollte das statische Kabinett Kohl IV noch im Amt bleiben, ehe Fischer sein außenpolitisches Selbstverständnis als Minister ausleben konnte. Der damals erworbene Realismus verließ ihn nie wieder.

2014 folgte dann "Scheitert Europa?", eine kassandrische Analyse der europäischen Schuldenkrise und der neoimperialen Gelüste Russlands, die sich zu einer echten Bedrohung für die EU verdichteten. Und nun also "Der Abstieg des Westens", diesmal als Feststellung und ohne Fragezeichen, quasi eine Fortsetzung des Europa-Motivs mit gleichem Grundsound: Fischer hat sich zum Elder Statesman für Warnungen und Untergangsprophezeiungen aller Art entwickelt. Freilich, schon die Warnung hilft, weil sie Bewusstsein schafft für die Kräfte der Zerstörung, die allenthalben walten.

Wirkliche Kulturpessimisten könnten feststellen, dass mit dem Westen auch die Figur des politischen Homme de Lettres in die Gruft steigt. Wenn vor hundert Jahren noch jeder Staatssekretär oder Gesandte seine Tagebücher und Anmerkungen zur Zeitgeschichte unters Volk brachte, so findet sich heute eigentlich kaum noch ein Politiker, der das Kleingehackte der Gegenwart mit der Essenz der Geschichte würzt und seine Erfahrung aus dem politischen Mikromanagement verbindet mit den Lehren der Alten.

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Ausgerechnet der Mann, der versprochen hat, Amerika wieder groß zu machen, könnte alles zerstören, was Amerika groß gemacht hat. Und das nur, um sich Wählerstimmen zu sichern.

Kommentar von Reymer Klüver

Fischer ist da eine rühmliche Ausnahme, auch wenn sein Sound für alle Nahesteher und Leser seiner Kolumnen immer gleich düster klingt. Fischer ist ein politischer Kulturpessimist, der aber vielleicht nur deshalb so schwelgt in seinen Untergangsprophezeiungen, weil ihm zu viel gesäuselt oder geschwiegen wird.

Geostratege oder ideologischer Wüterich? Fischer entscheidet sich nicht

Also verdichtet er pünktlich zu seinem 70. Geburtstag die Malaisen der Welt in einem Buch, das vom Scharnierjahr 2016 ausgehend (Brexit und Trump) den politischen, technischen, sozialen und ökonomischen Wandel des Westens in das große geopolitische Spiel um Macht und Dominanz einwebt. Das Resultat der Analyse frustriert erwartungsgemäß, weil Fischer auch kein Gegengift für die Neonationalisten in aller Welt, das "leninistische Modell auf digitaler Grundlage" in China und den Isolationismus der USA weiß. Er weiß hingegen: Die Schlacht findet jetzt statt - zwischen den Internationalisten und den Nationalisten. Sie entlocken Fischer Emotionen wie weiland die Urgegner aus seiner politischen Prägungsphase, die Altfaschisten und verkrusteten Patriarchen, gegen die er vor 50 Jahren auf die Straße gezogen war.

Bedauerlich ist, dass sich Fischer diesmal nicht entscheiden mag, ob er den Geopolitiker in sich schreiben lässt oder doch den ideologischen Wüterich, den man aus alten Tagen kennt. So arbeitet er ordentlich die Krisenherde nach Längen- und Breitengraden ab, verweilt lange in China und in Europa, ehe er in einem luziden Parforceritt deutsche Geschichte auf 26 Seiten verdichtet.

Die Vereinigten Staaten von Europa?

Allein: Was gerade bei der Analyse der deutschen Befindlichkeit zu kurz kommt, ist die Deutung der tektonischen Verschiebung der politischen Lager, die Wirkung von Digitalisierung und Kommunikation, die wachsende Polarisierung der Gesellschaft. Natürlich vergisst Fischer all dies nicht: Technische Innovation, die Ausbeutung der Umwelt, die Fragen von Identität und Demografie tauchen immer wieder auf. Nur: Gerade weil hier starke emotionale Kräfte wirken, wäre ein bisschen mehr der Volkspsychologe gefragt und nicht so sehr der Geostratege.

Die Rettung vor all dem Bösen? Fischer weiß schon, dass etwa das chinesische Modell keine breite Anziehungskraft entwickeln kann, weil ihm die Sanftheit und Freiheit fehlt, die jede freiwillige Gefolgschaft voraussetzt. Auch weigert er sich, Amerika abzuschreiben. Deutschlands und Europas Platz, so eine Kernbotschaft, kann nicht irgendwo in der Mitte liegen. Die Geschichte weiß, wie das ausgeht. Und gegen die Nationalismen hilft der Realismus: Auch in Europa ist der Nationalstaat momentan der stärkste Garant für den Zusammenhalt und für den Erhalt der EU - in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit einer Avantgarde. Die Vereinigten Staaten von Europa - momentan kein Thema.

Vor allem aber bleibt: Ungewissheit. Das Zeitalter des Westens geht zu Ende. "Für Deutschland beginnt ein neuer Abschnitt in seiner Geschichte." Welcher, weiß auch Fischer nicht zu prophezeien. Deswegen die Mahnung zur Wachsamkeit.

© SZ vom 12.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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