Nato-Treffen:Vom Sieg im Krieg

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Generalsekretär Jens Stoltenberg auf dem Weg zum Nato-Herbsttreffen, wo es um den Überlebenskampf der Ukraine geht. (Foto: Geert Vanden Wijngaert/AP)

In der Allianz wird gerade auffällig oft über Erfolge der Ukraine gesprochen. Das weckt bei manchen Teilnehmern den Verdacht, dass etwas kaschiert werden soll.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Von dem früheren US-Senator George Aiken stammt der Satz, die Amerikaner hätten sich im Vietnamkrieg doch einfach zum Sieger erklären und dann heimgehen sollen: Declare victory and go home. Man hätte dazu, argumentierte der Senator, nur den Begriff "Sieg" so definieren müssen, dass er noch irgendwie zu der wenig erfolgreichen militärischen Lage passe.

Ein leises Echo dieses Vorschlags ist derzeit in Brüssel zu vernehmen, wo am Dienstag das zweitägige Herbsttreffen der Nato-Außenminister begann. Das Hauptthema war - wie seit fast zwei Jahren bei jeder derartigen Zusammenkunft von Nato- oder EU-Ministern - der Krieg in der Ukraine. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade jetzt, da es im Westen immer schwieriger wird, die Unterstützung für Kiew zu organisieren, in Nato-Kreisen auffällig viel über ukrainische "Siege" und "Erfolge" gesprochen wird. Manchmal ist nicht ganz klar, ob das nur dem Ziel dient, die kriegsmüde Öffentlichkeit zum Durchhalten zu bewegen - oder ob nicht vielleicht eine bestimmte Definition von Sieg vorbereitet wird, die zur deprimierenden Lage an der Front passt.

Die demokratische Ukraine sei immer noch da, betont ein Diplomat

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg machte bei seiner Pressekonferenz zum Auftakt des Treffens exemplarisch vor, wie sich das anhört. Die ukrainische Armee, sagt er, habe in den vergangenen 21 Kriegsmonaten wichtige Schlachten gewonnen, den russischen Invasoren schwere Verluste zugefügt und besetzte Gebiete befreit. Vor allem aber habe die Ukraine als souveränes, unabhängiges Land überlebt. "Das ist ein großer Sieg", so Stoltenberg.

Diplomaten aus mehreren Nato-Staaten äußern sich ähnlich: Die große ukrainische Sommeroffensive, die fast überall in den russischen Minenfeldern und Sperranlagen an der Front stecken geblieben ist, habe zwar "nicht das Ergebnis gebracht, das wir uns erhofft hatten", sagt ein Regierungsvertreter in Brüssel. Aber immerhin eroberten auch die Russen kaum noch neue Gebiete. "Es gibt eine Erfolgsgeschichte - die Front hält."

Ein Diplomat aus einem anderen Nato-Staat lobt die Tapferkeit, mit der die Ukrainer ihr Land verteidigen. Der russische Präsident Wladimir Putin wolle die Ukraine als demokratischen Staat "weghaben", sagt er. Doch die demokratische Ukraine sei immer noch da. "In gewissem Sinn ist das bereits ein Sieg."

Für wie lange gelten diese Schwüre?

Der erste Teil der Aiken-Formel kommt also im Moment reichlich zur Anwendung in Brüssel - wenn schon nicht den, so doch irgendeinen Sieg erklären. Bisher macht allerdings noch keine westliche Regierung öffentlich den zweiten Schritt - heimgehen, sprich: die Ukraine aufgeben. Für die ukrainische Regierung, deren Außenminister Dmytro Kuleba an diesem Mittwoch bei seinen Nato-Kollegen und -Kolleginnen in Brüssel zu Gast sein wird, ist das ohnehin keine Option. Sie kämpft auf ihrem eigenen Territorium gegen einen brutalen Angreifer und Besatzer.

Doch auch die Nato-Staaten, die die Ukraine seit fast zwei Jahren mit Geld, Waffen und Munition unterstützen, schwören heilige Schwüre, dass sie das Land nicht im Stich lassen werden. "Die Ukraine kämpft weiterhin tapfer, wir werden ihr weiterhin helfen", verspricht Stoltenberg im Namen der Allianz. "Unser Job als Verbündete der Ukraine ist, sie in ihrem Kampf weiter zu unterstützen", sagt auch ein ranghoher westeuropäischer Diplomat. "Wir müssen uns doppelt anstrengen."

Doch es gibt Fragen: Für wie lange gelten diese Schwüre? Haben sie handfeste Folgen für die militärische Lage? Hält die Quantität und Qualität der politischen, finanziellen und militärischen Hilfe aus der Nato mit den Solidaritätsbekenntnissen Schritt?

Europa stellt sich darauf ein, dass die US-Unterstützung bald endet

Vor allem unter den Nato-Mitgliedern, die nahe an Russland liegen, ist die Sorge deutlich spürbar, dass die Ukraine trotz aller westlichen Versprechen den Krieg verliert. Regierungsvertreter aus dieser Region warnen seit Wochen bei Brüsseler Treffen, dass das Land militärisch und politisch in einer äußerst prekären Situation sei. Die Front halte zwar - aber sie halte nur mit größter Mühe und zu einem verzweifelt hohen Preis an ukrainischen Soldatenleben, sagt ein osteuropäischer Diplomat. Wenn die Russen, denen ihre Soldaten völlig egal seien, durchbrächen, sei nicht ausgeschlossen, dass sie in einigen Monaten wieder Kiew bedrohten.

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Dass ihre Kollegen aus westeuropäischen Staaten so viel über angebliche ukrainische Erfolge oder gar Siege reden, macht mittel- und osteuropäische Diplomaten eher misstrauisch: Für sie klingt es wie eine Ausrede, nicht noch mehr Militärmaterial an Kiew zu liefern, etwa deutsche Taurus-Marschflugkörper. Oder es hört sich an wie die rhetorische Vorbereitung von wie auch immer gearteten Verhandlungen mit Russland. "Wir sagen zwar immer, dass nur die Ukrainer entscheiden, ob sie mit Moskau verhandeln", sagt ein hörbar frustrierter osteuropäischer Regierungsvertreter. "Aber de facto hat der Westen das in der Hand, weil er entscheidet, ob die Ukraine kämpfen kann."

Die wichtigsten Beschlüsse dazu fallen nicht in Brüssel bei der Nato, auch nicht auf den Schlachtfeldern in der Ukraine, sondern in Washington. US-Präsident Joe Biden versucht dort, ein weiteres Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 60 Milliarden Dollar durch den Kongress zu bekommen. Ob es gelingt, ist offen. In europäischen Hauptstädten stellt man sich jedenfalls schon darauf ein, dass die US-Unterstützung für die Ukraine demnächst endet. Dass Europa diese Milliardenlast zusätzlich schultere, sei "ausgeschlossen", sagt ein Nato-Vertreter. Aber, so fügt dieser Diplomat hinzu, die Ukraine habe ja durchaus Erfolge vorzuweisen.

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