Italien:Immer auf Kurs

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Der frühere italienische Präsident Giorgio Napolitano. (Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

Der frühere Staatspräsident Giorgio Napolitano war ein Glücksfall in stürmischen Zeiten. Als die Politik versagte, hielt er das Land zusammen. Jetzt ist er mit 98 Jahren gestorben.

Von Andrea Bachstein

Draußen vor Roms Quirinal-Palast johlte und hüpfte die Menge, "Buffone, buffone" - Narr, skandierten Tausende. Das galt nicht dem Hausherrn im Präsidentenschloss, sondern seinem Besucher Silvio Berlusconi. Staatspräsident Giorgio Napolitano nahm drinnen im Quirinal gerade den Rücktritt des unhaltbar gewordenen Premiers an, das Ende einer Ära. Es war am 12. November 2011 der Abschluss einer der schwierigsten Phasen und Operationen, die Napolitano in seiner Amtszeit als Italiens Staatsoberhaupt von 2006 bis 2015 gesteuert hatte. Die Eurokrise erschütterte die EU, Griechenland taumelte am Abgrund, schon kursierte die Angst, Italien stehe vor der Staatspleite. Berlusconi erwies sich als unfähig zu reagieren trotz Drängens der Europäischen Zentralbank und der anderen EU-Mitgliedsstaaten.

Nicht der skandalumwitterte Regierungschef, sondern Napolitano wurde der zuverlässige Ansprechpartner der europäischen Staatsführer wie Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Ihn konsultierten sie, um zu erfahren, wie es um Italien steht. Der Jurist Napolitano, wusste immer, wie er die Rechte, die die Verfassung dem Präsidenten gab, zum Besten des Landes nutzen musste. Er bugsierte Berlusconi, der auch die Parlamentsmehrheit verloren hatte, aus dem Amt und wählte den Wirtschaftsprofessor und früheren EU-Kommissar Mario Monti zum Chef einer technischen Regierung, die Italien dann bald vom Abgrund wegsteuerte und in Europa wieder Vertrauen gewann. Niemand hatte Zweifel, dass es nur durch Napolitanos Wirken im Hintergrund so glimpflich abging. "Re Napolitano", König Napolitano, wurde er zeitweise genannt, obwohl er gar nichts mit Monarchie am Hut hatte. Aber in Italien herrschte das Gefühl, er halte das Land als Einziger auf Kurs, er steuere es, weil die Politik versagte.

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Napolitano war der Mahner im Chaos

Was ihm die chaotische, manchmal unzurechnungsfähig wirkende letzte Regierung Berlusconis abnötigte, war einzig. So oft wie Napolitano musste bisher kein italienischer Präsident in die Politik eingreifen. Viele, viele Male musste er den Premier und seine Minister in die Schranken weisen, wenn sie wieder Gesetzespläne zugunsten Berlusconis mit seinen Justizproblemen präsentierten, sie an die Verfassung erinnern, zu Respekt vor den Staatsinstitutionen aufrufen und dazu, ihre entgleiste Tonlage zu mäßigen, Europa im Blick zu haben und endlich an die Probleme der Italiener zu denken.

Er selber tat das, etwa indem er die dramatische Jugendarbeitslosigkeit zum Thema machte, bei der die Regierung nur zusah, überhaupt blieben ihm die Interessen der einfachen Arbeitnehmer bis zuletzt ein großes Anliegen. Er wusste, was die Bürger bewegte, und er sprach es an. Es gelang ihm, seine stets elegante Erscheinung - gerne mit Borsalino-Hut - mit einem bescheidenen, unprätentiösen, aber nie anbiederndem Auftreten zu vereinen. Seine zutiefst menschliche Art und verständliche Sprache, Humor und seine Rolle als unbestechlicher Hüter der Verfassung machten ihn ungemein beliebt, in Umfragen erhielt er bis zu 90 Prozent Zustimmung. Sein Auftritt bei der Fußball-WM in Berlin, als Italien 2006 Weltmeister wurde, trug dazu bei - denn es war da noch nicht üblich, dass italienische Präsidenten ins Stadion kommen. Und auch solche Kleinigkeiten: Spaghetti al Pomodoro waren seine erklärte Lieblingsspeise. Auch seine Frau Clio, sie waren 54 Jahre verheiratet, war beliebt. Sie zog es öfter vor, in der unweit des Präsidentensitzes gelegenen Privatwohnung zu bleiben, als sich dem strengen Protokoll des Quirinal zu unterwerfen.

Nicht nur mit Berlusconi hatte Napolitano eine Regierungskrise zu meistern, es kamen und gingen ja fünf Premiers in seiner Amtszeit, die immer wieder schwierigen Übergänge meisterte Napolitano klug, entschlossen und schnell. Was er von dem oft verantwortungslosen Agieren vieler in der politischen Klasse, ihren Skandalen, ihrer Inkompetenz hielt, sagte der Präsident mehr als einmal, wie 2012 in Pesaro: "Was verfault ist, muss entfernt werden, damit die Parteien wieder zu Moralität und Regierungsfähigkeit gelangen." Die Parteien müssten sich entschieden erneuern, verlangte er. Und den Bürgern legte er ans Herz, sich trotz allem nicht von Politik und Parteien abzuwenden. "Wohin soll das führen?", fragte er. Das Feld dürfe nicht Demagogen überlassen werden, warnte Napolitano, Jahre, ehe die sozialen Medien den Demagogen zum Aufstieg verhalfen.

Reformen statt Revolution

Der 1925 in Neapel geborene Napolitano war als junger Mann der kommunistischen Partei PCI beigetreten, die in den 1970er-Jahren die größte Kommunistische Partei Westeuropas wurde. Ihre Popularität hatte viel zu tun mit der Rolle der Kommunisten im Widerstand während des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs. Napolitano war kein Stalinist, sondern ein Reformer. Soziale Gerechtigkeit, ein besseres Leben für die Arbeiter waren seine Ziele, und sie sollten nach seiner Meinung nicht durch eine Revolution, sondern durch Reformen errungen werden. Er begriff viel früher als viele, dass der Kommunismus überholt war. Noch vor dem Mauerfall 1989 betrieb er die Umwandlung des PCI in die Demokratische Linkspartei PDS. Er unterstützte eindeutig Italiens Westanbindung und war zutiefst überzeugt von einem geeinten Europa, für das er unermüdlich eintrat. Der Sympathien für Kommunismus und Sozialismus völlig unverdächtige Amerikaner Henry Kissinger nannte Napolitano "meinen Lieblingskommunisten". 2015, schon nach seinem Rücktritt, erhielt Napolitano den Henry A. Kissinger-Preis für außergewöhnliche Verdienste um die transatlantischen Beziehungen.

Die durch die deutsche Besatzung und ihre fürchterlichen Verbrechen in Italien belastete Beziehung zu Deutschland, pflegte Napolitano achtsam. Er nannte beim Namen, was die Deutschen seinen Landsleuten angetan hatten, aber stets im Geiste der Versöhnung, der Freundschaft und einer gemeinsamen Zukunft in Europa. Das wurde besonders deutlich an der Herzlichkeit, mit der Napolitano den damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck zum Staatsbesuch in Italien empfing, die beiden schienen sich in jeder Weise gut zu verstehen. Und als dessen Vorgänger Christian Wulff ganz frisch im Bundespräsidentenamt bei seiner hektischen Antrittstour durch Europas Hauptstädte in Rom ankam, sichtlich nervös, ein bisschen verknittert und verschwitzt im Quirinal neben dem wie aus dem Ei gepellten Napolitano auftrat, schien es fast, als halte der dem jungen Amtskollegen auf väterliche Weise beruhigend die Hand.

Ehe er als erster ehemaliger Kommunist Italiens in das höchste Staatsamt gewählt wurde, hatte sich Napolitano Ansehen erworben, jahrzehntelang vertrat er seine Stadt Neapel als Abgeordneter in Italiens Parlament, er war zeitweise Präsident der Abgeordnetenkammer und von 1996 bis 1998 Innenminister, viele fanden, der beste in Jahrzehnten. Es folgten fünf Jahre als Abgeordneter im EU-Parlament. Napolitano war in der italienischen Nachkriegsrepublik dann der erste Präsident, der im April 2013 wiedergewählt wurde für eine zweite Amtszeit.

Zweite Amtszeit fiel ihm zunehmend schwer

Das hatte Napolitano nicht vorgehabt, er war schon 87 Jahre alt. Weil die Parteien aber desaströs agierten, jeden anderen Kandidaten mit ihren Streitigkeiten verschreckt oder verbrannt hatten, gab Napolitano schließlich den Bitten nach, sich erneut zur Verfügung zu stellen. Damit die Politik wieder ihrem Geschäft nachgehen konnte, erwies er seinem Land diesen weiteren Dienst. Der fiel ihm zunehmend schwer.

In seiner Fernsehansprache zum Jahresende 2014 erklärte Napolitano den Italienern, dass er sich nicht mehr imstande sehe, das anstrengende Präsidentenamt weiter so auszuüben, wie er das für richtig hielt. Geistig war er völlig fit, aber die Körperkräfte des 89-Jährigen ließen doch nach. Am 14. Januar 2015 trat Giorgio Napolitano als Staatspräsident zurück. Er wurde zum Senator auf Lebenszeit ernannt, die letzten Jahre lebte er auch krankheitsbedingt sehr zurückgezogen, und am Freitagabend ist Giorgio Napolitano nun mit 98 Jahren in einer Klinik in Rom gestorben.

Sein Nachfolger Sergio Mattarella - der unter ähnlichen Umständen zu einer zweiten Amtszeit bewegt wurde, sagte nun, Napolitano habe die Rolle des Garanten der Werte mit Treue zur Verfassung und scharfer Intelligenz interpretiert und große Aufmerksamkeit für die Erneuerungswünsche der Gesellschaft gehabt.

So viel Pech Italien mit seinen Politikern immer wieder hatte, so viel Glück hat es mit seinen Präsidenten, und Giorgio Napolitano war ein besonderer Glücksfall in einer besonders schwierigen Zeit. Je tiefer die Parteien im Sumpf ihres Kampfs um die Macht versanken, desto mehr leuchtete die Figur dieses Präsidenten: ein zarter, alter Gentiluomo, der standhaft Kurs hielt in heftigen politischen Stürmen und das Land zusammenhielt.

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