An diesem Mittwochvormittag kommt der Augenblick, den viele Italiener - allen voran Premier Matteo Renzi - gern hinausgezögert hätten. Weil sie ihn fürchten. Irgendwann zwischen neun und elf Uhr wird der 89 Jahre alte Staatspräsident Giorgio Napolitano das Studio alla Vetrata im ersten Stock des Quirinalspalasts in Rom betreten, wo er sonst hohe Gäste empfängt. Diesmal wird der Präsident nur eine Urkunde unterzeichnen: seine Abdankung.
Danach geht alles ganz schnell. Ein Kurier überbringt die Botschaft den beiden Parlamentskammern und dem Premier. Anschließend schreitet Napolitano zum letzten Mal in den Ehrenhof des Palastes. Die Nationalhymne erklingt, "Fratelli d'Italia". Dann darf sich der alte Herr endlich, nach knapp neun Jahren im Amt, ins Privatleben zurückziehen.
Für Italien ist das ein besonderer Abschied. Der gebürtige Neapolitaner und frühere Kommunist Napolitano, der seit mehr als 60 Jahren in der Politik ist, war ein außergewöhnlicher Präsident. Er schöpfte die Möglichkeiten, die die Verfassung für das vorwiegend repräsentative Amt vorsieht, aus. Kritiker meinen sogar, er habe sie überschritten. Jedenfalls garantierte dieser Präsident seinem Land in turbulenten Zeiten Stabilität im Inneren und Vertrauenswürdigkeit im Ausland.
Nicht nur Italien verliert einen großen Politiker
Napolitano drängte 2011 den international total diskreditierten, bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise versagenden Premier Silvio Berlusconi von der Macht. Danach ernannte er nacheinander drei Männer zu Regierungschefs, die sich nicht auf Wahlen stützen konnten, sondern vor allem auf den Rückhalt des Präsidenten: Mario Monti, Enrico Letta und Matteo Renzi.
Napolitano redete bei der Ernennung der Minister kräftig mit, vor allem aber trieb er die Regierungen zu all den Wirtschafts- und Verfassungsreformen an, die er seit Langem für notwendig hält. In der Form staatsmännisch höflich, in der Sache klar geißelte er die Intrigen der Politiker in Rom, die Korruption im Land und den mangelnden Bürgersinn vieler Italiener. Napolitano wollte Italien zu einem normalen, modernen Land in Europa machen und vor Nationalismus und Chauvinismus bewahren. Erst vor wenigen Tagen mahnte er seine Mitbürger, "den eng begrenzten Horizont zu überwinden, in dem wir uns einzuschließen drohen".
Als Premier Renzi am Dienstag mit einer Rede vor dem Europaparlament in Straßburg die italienische EU-Ratspräsidentschaft beendete, sagte er, Italien orientiere sich an den großen Europäern seiner Geschichte. "Ich möchte an einen erinnern: Giorgio Napolitano, der in diesen Stunden sein Amt aufgibt." Die Abgeordneten applaudierten. Sie merkten, dass nicht nur Italien, sondern ganz Europa einen großen Politiker verliert.
In Rom beginnt nun ein Countdown. Spätestens 15 Tage nach dem Rücktritt des Präsidenten muss die Wahlversammlung, die aus den nationalen Abgeordneten, den Senatoren und einigen Vertretern der Regionen besteht, zur Wahl eines neuen Staatschefs zusammenkommen. Die 1008 Wahlmänner und -frauen werden also voraussichtlich von 29. Januar an versuchen, in geheimer Wahl einen Nachfolger Napolitanos zu bestimmen.
In den ersten drei Wahlgängen ist eine Zweidrittelmehrheit nötig, vom vierten an reicht die absolute Mehrheit. Bleibt die Versammlung erfolglos, wird das italienische Parlament aufgelöst, und es gibt - wie in Griechenland - Neuwahlen. Die ohnehin schleppend vorangehenden Reformen wären dann für Wochen blockiert. Der Wahlkampf dürfte, angesichts all der fremdenfeindlichen und anti-europäischen Kräfte im Land, heftig werden. Und am Ende könnte das neue Parlament noch weniger Regierungsfähigkeit garantieren als das alte.
Berlusconi hofft auf einen ihm gewogenen Präsidenten
Vor allem an Renzi liegt es nun, dieses Szenario zu vermeiden, indem er einen Konsens für die Präsidentenwahl herbeiführt. "Wir werden den Präsidenten im vierten Wahlgang wählen", prophezeite er. "Darauf wette ich." Es ist kein Geheimnis, dass der Premier auf ein Bündnis seines regierenden sozialdemokratischen Partito Democratico mit der Partei Forza Italia Silvio Berlusconis setzt. Gemeinsam hätten sie eine absolute Mehrheit in der Wahlversammlung.
Nur wird es schwer werden, einen Kandidaten zu finden, der Berlusconi und Renzi passt. Der verurteilte Steuerbetrüger Berlusconi ist von politischen Ämtern ausgeschlossen. Er hofft nun, dass der neue Präsident ihm gewogen ist und ihn begnadigt. Napolitano hatte das abgelehnt. Renzi wiederum wünscht sich wohl einen Präsidenten, der nicht so stark und charismatisch ist, wie es Napolitano war. Und dann wäre da noch der rebellische linke Flügel in Renzis Partei, der die geheime Präsidentenwahl nützen könnte, um dem Premier einen Denkzettel zu verpassen.
Kommentatoren sagen ein politisches Tohuwabohu voraus. Schon in der Vergangenheit gerieten die Wahlen zum höchsten Amt im Staate gern zum ganz großen römischen Polittheater, das zwischen Posse und Drama schwankt. Dabei gilt dieselbe Regel wie jenseits des Tibers: Wer als Papst ins Konklave geht, kommt als Kardinal wieder heraus. Schon viele bedeutende Staatsmänner scheiterten bei den geheimen Präsidentenwahlen, zum Beispiel Benedetto Croce, Aldo Moro oder Giulio Andreotti.
Eine große Rolle spielten und spielen dabei franchi tiratori, Heckenschützen. Das sind Wahlmänner, die im Schutz des Wahlgeheimnisses gegen die vorher verabredete Parteilinie stimmen. Ihre Macht bekam 2013 Ex-Premier Romano Prodi zu spüren. Ihn hatte damals der Partito Democratico als Präsidenten vorgeschlagen, bei einer offenen Aussprache waren alle Wahlmänner der Partei für ihn.
Doch dann brachten überraschend 100 Heckenschützen den Kandidaten zu Fall. Danach war die Versammlung paralysiert. Schließlich beknieten die Parteien Napolitano, der unbedingt aufhören wollte, nochmals anzutreten. Er gab nach, unter der Bedingung, nur noch für eine Übergangszeit zu amtieren.
Prodi, der einst EU-Kommissionspräsident war, gilt jetzt wieder als heißer Kandidat. Der linke Flügel der Sozialdemokraten steht hinter ihm. Jedoch ist es wenig wahrscheinlich, dass Berlusconi seinen Intimfeind akzeptiert. EZB-Präsident Mario Draghi hat ein Interesse am Präsidentenamt verneint, jedenfalls offiziell.
Napolitano hat dem Land schon lange gedient
Ex-Außenministerin Emma Bonino, die sehr beliebt ist, leidet unter einer schweren Erkrankung. Dem Senatspräsidenten Pietro Grasso werden Außenseiter-Chancen eingeräumt, ebenso Finanzminister Pier Carlo Padoan oder dem früheren Bürgermeister von Rom, Walter Veltroni. Nur: Mancher Name wird nur ins Gespräch gebracht, um ihn zu verbrennen. Das gehört zum Spiel.
Sicher ist eines: Napolitano wird nicht noch einmal einspringen. Der Präsident, der künftig Senator auf Lebenszeit ist, hat öfter geklagt, dass ihm das Alter und die Last des Amtes in dieser schwierigen Zeit zusetzen. Der Jurist aus dem Süden hat seinem Land schon lange und viel gedient. Er stammt aus der Riege jener italienischen Euro-Kommunisten, die sich dem Diktat der Sowjetunion entzogen und einen Euro-Sozialismus predigten, der Rechtsstaat und Demokratie akzeptiert.
1978 reiste er in die USA, um sich vom ideologischen Anti-Amerikanismus zu distanzieren. Seine Leidenschaft galt der Außenpolitik und vor allem dem geeinten Europa. Seine Zustimmungswerte als Präsident waren sehr hoch. Zuletzt geriet er in Italien allerdings in die Kritik wegen unbewiesener Vorwürfe, er sei in den Neunzigerjahren irgendwie an einem Waffenstillstand zwischen Staat und Mafia beteiligt gewesen.
Napolitano wirkt erleichtert darüber, das Ringen der italienischen Politik künftig aus der Distanz zu verfolgen. "Es geht einem gut hier, es ist alles sehr schön. Aber es ist ein wenig wie im Gefängnis", sagte er am Dienstag über sein Leben im Quirinalspalast. Nun wird er mit seiner Frau Clio wieder in sein altes Apartment im urrömischen Viertel Monti ziehen. Clio Napolitano sagt: "Einfach nach Hause zu kommen wird für uns wie Ferien sein."